Grounding – Tagebuch einer turbulenten Bruchlandung
in Südindien
Wir werden in Indien von der Coronavirus-Realität eingeholt und müssen die Segel streichen.
Samstag, 21. März, Cochin International Airport, Indien. „No, it's not possible, you can't fly to Japan“. Wir schauen uns mit langen Gesichtern an, ringen um Fassung, der Boden scheint zu schwanken. Wir dürfen nicht nach Japan fliegen. Was uns der freundliche indische Beamte am Check-in zu verstehen gibt, reisst alle Hoffnungen der vergangenen Stunden in den Abgrund. Der letzte mögliche Flug findet ohne uns statt. So rasch platzen Seifenblasen. Seit heute gelten für Singapore und Japan neue Visavorschriften. Fast eine Stunde haben vier Beamte auf ihr Smartphone gestarrt, um das herauszufinden. Alles gute Zureden, Bitten, Begründen war umsonst. Ab morgen schliesst der Cochin International Airport mindestens bis zum 29. März, mit ihm sämtliche anderen Internationalen Flughäfen in Indien, ausser New Dehli. Das hässliche Coronavirus hat uns definitiv auf den Boden der Realität geholt.
Aber von Anfang an . . .
Vorfreude für Augen, Nasen und Gaumen
Seit gut drei Monaten ist klar, dass wir Indien nach sieben Monaten auf dem Subkontinent Richtung Japan verlassen. Japan verspricht ein komplettes Kontrastprogramm. Vor vier Jahren haben wir die Kirschblüten im Frühling um einen Monat verpasst, zudem fehlt der interessante Süden mit seinen Vulkanen, heissen Quellen und tollen Nationalparks. Wieder wild Zelten, äusserst rücksichtsvolle Autofahrer, gehupt wird grundsätzlich nicht, weil sehr unanständig, ausgesprochen höfliche, zurückhaltende Menschen, kulinarische Höhenflüge, Velofahren im saubersten Land, das wir kennen, ein Land, das schlicht nach nichts riecht! Das ist Japan für uns.
Mitte Februar wird endlich gebucht! Am 22. März fliegen wir von Kochi über Kuala Lumpur (Malaysia) nach Osaka. Bis Kochi sind noch gut zwei Wochen Velofahren eingeplant, vielleicht an der Küste ein paar Tage ausspannen inklusive.
Ford Kochi, einst von den Portugiesen gegründet, haut uns nicht aus den Socken. Dank einem Tipp unserer österreichischen Radlerfreunde bekommen wir Velokartons bei einem französischen Sportartikel-Hersteller. Die Demontage der Stahlrösser für einen Flug nimmt locker einen Morgen in Anspruch. Inzwischen Routinearbeit.
Offene Ablehnung
Seit die ersten Coronavirus-Infektionen in Indien bekannt wurden, spüren wir als Touristen verhohlene bis offene Ablehnung, die sich dadurch äussert, dass Einheimische in Eisenbahn, Restaurants und auf der Fähre den Platz wechseln, sobald wir uns setzen, demonstrativ Schals vor den Mund halten, „Corona, Corona“ zurufen oder uns mit finsteren Blicken mustern. Für viele Inder sind wir Fremden die Schuldigen, die das Virus ins Land gebracht haben. Nicht wenige Inder glauben, dass das Virus ebenfalls durch Mücken übertragen wird, man sich beim Essen von Huhn anstecken kann und dass die Regierung an gewissen Tagen Desinfektionsmittel aus Flugzeugen versprüht. Gerüchte spriessen wie Spargel im Frühling und verunsichern.
Bei so viel Müll und verdrecken Gewässern wie in Indien und äusserst prekären hygienischen Verhältnissen beim Halten und Schlachten von Hühnern, Ziegen und Wasserbüffeln mutet die Schuldzuweisung surreal-komisch an, um es höflich auszudrücken. Möglicherweise stammt das Virus aus China, oder aus den USA, wie die Chinesen mutmassen oder vielleicht aus einem ganz anderen Land. Niemand weiss das zur Zeit genau.
Sonntag, 15. März: Erwischt. Was seit Tagen durch die Zeitungsseiten geistert, hat uns ein Bein gestellt. Flüge werden umgebucht, abgesagt. Länder schliessen die Grenzen.
Unser Flug wird um einen Tag auf den 23. März, abends spät verschoben, das Flugzeug ist kleiner geworden. Kein Problem, was soll's, Hauptsache wir fliegen ins Land der aufgehenden Sonne.
Mittwoch, 18. März: Flug nach Japan gecancelt. Zu diesem Zeitpunkt trifft uns die Hiobsbotschaft unerwartet. Malaysia hat den Flughafen Kuala Lumpur für internationale Flüge dicht gemacht. AirAsia bietet eine Gutschrift an. Die lassen wir mal so stehen.
Seit einer Woche sind wir die einzigen Gäste im Hotel. Das Restaurant ist seit gestern geschlossen, wir geniessen Zimmerservice. Touristen aus dem Westen sind seltene Spezies geworden, zudem hat die indische Regierung alle ausgestellten Visa von Touristen, die noch nicht eingereist sind, für ungültig erklärt. Fast alle Hotels schliessen nach und nach. Ohne Arbeit, kein Einkommen, hart für das indische Personal, da es keine Arbeitslosenversicherung gibt. Es wird langsam eng, wir wollen rasch weg aus Indien.
Donnerstag, 19. März: Gleich am nächsten Morgen buchen wir erneut, diesmal über Singapore nach Osaka. Erst beim zweiten online-Versuch klappt es nach erneuten Serverproblemen in der Schweiz durchzukommen, d.h., den Flug zu bezahlen. Allerdings lässt sich das Flugticket nicht speichern. Der Schweiss fliesst in Strömen, Finger und Tastatur kleben, wir sind nervös und vertippen uns häufig. Wenn nur der Strom nicht ausfällt. Hoffentlich wird der Flug nicht zweimal abgebucht.
Freitag, 20. März: Der Taxifahrer holt uns am frühen Abend ab, ist gut gelaunt, solche Transporte mit dem grossen Van zum Flughafen fährt er nicht alle Tage. Wir schwanken zwischen Hoffen und Bangen. Unsere Magennerven spielen verrückt. Wir sind extra früh unterwegs, Indien ist berüchtigt für seine überbordende Bürokratie, also genug Zeit einplanen.
Unbequeme Nächte am Flughafen zwischen Hoffen und Bangen
Erst vor drei Jahren wurde der neue Flughafen Kochin International Airport fertig gestellt. Modern und für grosse Passagierzahlen grosszügig konzipiert, hasten heute Morgen nur wenige Reisende dem Terminal 3 zu. Nur wer ein Flugticket vorweisen kann, darf vier Stunden vor dem Abflug den Terminal betreten, eine spezielle Eigenheit der indischen Flughäfen. Wir sind zwei Stunden zu früh dran, also ausloggen. Nur auf der Toilette gibt es Trinkwasser, ansonsten ist man als Wartender hier völlig abgeschnitten. Kein Internet, kein Bankomat, weder Restaurant noch Kiosk, kalte, nüchterne Leere. Benutzerunfreudlicher kann man kaum organisieren. Der Reisende wird zum Bittsteller.
Fast alle tragen hier Schutzmasken, wer es nicht tut, wird vorwurfsvoll gemustert. Nach dem obligatorischen Fiebermessen zeigen wir unsere Buchungsnummer. „You have no plane tickets?“, der Militärpolizist mustert uns skeptisch. „No, we had trouble with download“. Unsere Namen stehen auch nicht auf der ausliegenden Namensliste. Keine Chance, die Boeing nach Singapore steigt ohne die zwei Schweizer Velofahrer in den Nachthimmel. Wie weiter? Keine Ahnung . . . wie ein Veloschlauch bei einem Platten, so fühlen wir uns.
Übermorgen ab 06.00 Uhr wird der Kochin Airport für internationale Flüge geschlossen. Inzwischen haben wir von Indien die Nase gestrichen voll. Morgen muss es klappen, es MUSS! Die indische SIM-Karte von Bea's Smartphone ist abgelaufen und in drei Tagen wird unser Visum zu Makulatur. Kann es noch übler kommen? Ja, es kann. Ins Hotel zurück ist nicht mehr möglich, wir müssen also hier in der Vorhalle übernachten.
Über WhatsApp bitten wir unsere Tochter in der Schweiz, den gleichen Flug für morgen zu buchen. Juhh, hat geklappt! Samstags, um zwei Uhr morgens, fallen wir uns die Arme, jetzt kann wirklich nichts mehr passieren!
Und dann das endgültige Grounding am späten Abend (siehe Textanfang). Ende Gelände. Wieder stehen wir mit hängenden Köpfen mit all unserem Karsumpel wie Flüchtlinge in der Vorhalle. Jetzt die Nerven behalten, nicht die Fassung verlieren. Wir sind gesund, das ist die Hauptsache und mit nichts aufzuwiegen. 17'000 andere Schweizer Touristen teilen mit uns das gleiche Schicksal, sind im Ausland gestrandet. Obwohl Europa zur Zeit abschreckt und man lieber einen grossen Bogen schlagen würde, bleibt für uns doch nur der eine Weg, zurück in die Heimat, in die Schweiz. Wir geben uns geschlagen.
Erst mal ein Taxi und ein Hotel finden, das uns aufnimmt, dann sehen wir weiter.
Vor Tagen haben wir von unserem Hotelier in Fort Kochi erfahren, dass ein Hotel nach dem anderen schliesst und die Regierung die Hotelbetreiber auffordert, keine Ausländer mehr zu beherbergen. Verständlich aber nicht umsetzbar. Die verbliebenen Touristen im Land können nicht einfach auf die Strasse gestellt werden. Nach wie vor besitzen die meisten ein gültiges Visum und haben ein Recht, als Gäste behandelt zu werden.
Am Ende des Lateins - unsere Nerven liegen blank
Wir konstatieren, dass die Stimmung gegenüber den Touristen täglich mehr ins Negative kippt. Auskunft oder gar Hilfe zu bekommen, gerät zum Spiessrutenlauf. Die Taxifahrer am Airport sind nicht bereit, uns zu einem Hotel zu bringen, zu gross ist die Angst vor einer Virusansteckung. Ich störe die junge Inderin am Schalter der Hotelreservation beim privaten Telefongespräch. Schon schlecht. Gibt es im Airporthotel oder einem anderen Hotel in der Nähe Zimmer für Ausländer? Die Frau runzelt die Stirn, zuckt mit den Schultern. Vielleicht könnte sie mal anrufen? Etwas widerwillig greift sie zum Hörer. Keine Zimmer für Ausländer. Gibt es eine andere Unterkunft? Ich habe keine Telefonnummern(!) der anderen Hotels. Rasch wende ich mich ab, es brodelt und der Kessel könnte überkochen.
Im Terminal 3 des Airports leisten gegen hundert Armeeangehörige und Polizisten in Acht-Stunden-Schichten Wachtdienst. Alle bewaffnet mit Schutzmasken, blauen Gummihandschuhen, Pistolen und Sturmgewehren. Wir bitten zwei Offiziere, uns zu helfen, ein Taxi zu finden. Niemand getraut sich offenbar Verantwortung zu übernehmen, lieber mit weiblichen Armeeangehörigen schäkern und die schicke Uniform samt Bauchtrommel spazieren führen. Inder sind eitle Pinkel. Dürfen wir wenigstens unser umfangreiches Gepäck beim bewachten Ausgang des Terminals für eine Stunde abstellen, um ein Hotel zu suchen? „No, is not allowed“, nein ist nicht erlaubt, so die barsche Antwort. Ich bitte eine Ausnahme zu machen. Keine Chance. Darf ich wenigsten zum fünfzehn Meter entfernten Bankomaten im Terminal um unsere knappe Barschaft aufzubessern? Die gleiche Antwort. Ich habe die Nase voll und mache zwei Schritte über die imaginäre Linie, was ich besser hätte bleiben lassen. Halt, stopp, schnauzt mich der ältere Wachhabende an, ich antworte ihm in etwas lauterem Ton, was das Interesse der Soldaten im Umkreis weckt. Besser den Mund halten und abdampfen. Bea hat für solche Intermezzi absolut kein Verständnis und fährt mich wütend an. Die Nerven liegen blank. Nie vorher haben wir uns so im Stich gelassen gefühlt. Die Gleichgültigkeit der Inder treibt uns mehr und mehr auf die Palme!
Nach einer erneuten Nacht in der Terminal-Vorhalle – wir schlafen am Boden, etwas hinter den Veloschachteln verborgen in Stundenschichten, um alles im Auge zu behalten – findet Bea am frühen Morgen bei Sonnenaufgang (zu Fuss) ein Hotel ganz in der Nähe.
Der hoteleigene Kleinbus holt mich samt Gepäck und Velokartons ab. Seit heute gilt eine dreiwöchige, umfassende Ausgangssperre im Land. Das lärmige, ständig hupende Indien ist gespenstisch ruhig geworden.
Tolle Hilfe aus der Schweiz
Keine Ahnung, wie lange wir bleiben dürfen, resp. müssen. Die Auskünfte an der Hotel-Reception sind schwammig, ändern täglich. Trotzdem fühlen wir uns gut aufgehoben, werden freundlich bedient, das tut unheimlich gut! Wir sind die einzigen ausländischen Gäste neben zwei, drei Indern.
Die Visaverlängerung ist online erledigt. Trotz ständiger Furcht, dass der Strom ausfällt, war der Papierkrieg nach zwei Stunden und etlichen Formularseiten gewonnen. Für uns ganz wichtig, dass wir uns über den TravelApp beim schweizerischen Departement des Äusseren EDA melden und die Schweiz weiss, wo wir untergebracht sind. Unsere Lieben in der Heimat versorgen uns dank guten Verbindungen zum EDA mit wichtigen Informationen, von der Schweizer Botschaft in New Dehli und vor allem durch das Schweizer Generalkonsulat in Mumbai und Herrn Konsul Keller und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden wir toll informiert und umsorgt. Alle machen einen superguten Job, vermutlich mit vielen Überstunden. Wir fühlen uns privilegiert und schätzen das sehr.
Wir hoffen, dass uns in den nächsten Wochen ein Flugzeug in die Schweiz zurückbringt. Geduldig im Hotelzimmer abwarten, heisst die Devise.
In der Zwischenzeit hat sich durch Vermittlung des Schweizer Konsulats in Mumbai eine WhatsApp-Gruppe gebildet, der Schweizer Touristen hier in Kerala angehören. Wir versorgen uns gegenseitig mit den neuesten Informationen und – mindestens so wichtig – unterstützen uns moralisch in dieser schwierigen Situation. (Wir hofften die Mitglieder der WhatsApp-Gruppe in Kochin oder dann in Zürich kurz kennen zu lernen. Leider vergebens. Nicht ein Wort über WhatsApp waren wir den beiden Ehepaaren aus Basel und Zürich nach der Ankunft in der Schweiz wert. Passt zum gehässigen Umgangston gegenüber den Verantworlichen von EDA und Schweizer Botschaft während der Wochen des Wartens in Indien).
Gemäss früherer Ankündigung sollte heute Montag, 30. März, der Kochin International Airport hier in Kerala seinen Betrieb wieder aufnehmen. Fehlanzeige, die Ausgangssperre gilt bis 15. April. In TV-Videos ist zu sehen, wie Polizisten mit Stöcken auf Passanten und Motorradfahrer einprügeln, die sich nicht an das Ausgangsverbot halten.
Informationen sind schwer zu bekommen weil das öffentliche Leben so gut wie nicht stattfindet. Das EDA hat uns mitgeteilt, dass wir auf einer Warteliste stehen um allenfalls vom Trivandrum Airport, 230 km südlich von Kochi, mit Hilfe von Ländern der EU ausgeflogen zu werden. Wann würden wir fliegen? Wohin? Wie kommen wir nach Trivandrum? Vieles ist offen, die Verhandlungen offenbar zäh und schwierig. Wir warten auf weitere Informationen und üben uns in Geduld. Unsere Visaverlängerung wurde bestätigt, allerdings nur bis zum 15. April; noch haben wir alles, was wir brauchen und werden im Hotel gut umsorgt.
Für viele Menschen in Indien ist nicht das Virus das grosse Problem, sondern die Angst vor dem Verhungern. Einfache Arbeiter und Tagelöhner wandern bis 400 km zu Fuss in ihr Heimatdorf weil sie keine Arbeit mehr finden und der öffentliche Verkehr eingestellt wurde.
Schlusspunkt
Nach fünf Wochen Warten und Hoffen im Hotel, können wir mit einem der letzten Swiss-Rückholflüge des EDA Indien am 26. April 2020 verlassen. Für unseren Flug wird der Kochin International Airport für einige Stunden unter strengen Hygieneauflagen geöffnet.
Dank der Grosszügigkeit der Schweizer Botschaft dürfen wir unser ganzes Gepäck und die Velos mitnehmen.