Ab 5.2.2020
Essen und Trinken in Indien – für Europäer ein Buch mit sieben Siegeln
Goa und Benaulim Beach mit seinen weiten Sandstränden (wegen der vielen Pensionäre aus Europa, die dem kalten Winter entfliehen und sich im heissen Sand grillen lassen, auch spöttisch „Kukident-Beach“ genannt) liegt hinter uns. Der kleinste indische Bundesstaat ist stark westlich geprägt. Goa, die ehemalige Kolonie der Portugiesen, einst Hippie-Mekka der 68er, wo Gras-Raucher unbehelligt dampfen und das Baden im Bikini geduldet wird, gehört seit 1962 zu Indien. Neben Europäern entfliehen viele Russen für zwei, drei Wochen der sibirischen Kälte, darum sind Speisekarten in der Regel zweisprachig abgefasst.
Endlich nach zwei Wochen wieder auf dem Velo! Es gibt für uns eben nichts Schöneres. Erneut geht's weiter auf kleinen Strassen entlang der Küste. Palmenwälder und kleine Dörfer wechseln sich mit Cashewnuss-Plantagen ab. Wir geniessen das Pedalen. Was uns in Abständen befremdet, sind die jungen, muslimischen Schulmädchen im den ganzen Körper verhüllenden Tschador samt Niqab (lediglich die Augen bleiben frei), inmitten ihrer Hindu-Kolleginnen in Schuluniform. Hier wie dort sehen wir strahlende Augen die uns nachblicken. Die jungen Musliminnen werden bis zu ihrem Lebensende hinter den hohen, unüberwindlichen Mauern ihrer Familien vor fremden Blicken verborgen bleiben. So extrem konservativ haben wir den Islam bisher in keinem Land erlebt, das wir bereisten. Uns fröstelt, trotz 30 Grad im Schatten.
Nicht immer einfach ist es für uns, eine Unterkunft zu finden. Obwohl in der Realität mehr Hotels existieren als auf der Karte angegeben sind, sind viele davon Bruchbuden oder finstere, schmutzstarrende Löcher; wir können es nicht anders sagen. Das Smartphone ist in Indien omnipräsent, warum also putzen wenn man stundenlang am Phone spielen kann.
Heute landen wir einen Glückstreffer mit dem etwas ausserhalb des Zentrums gelegenen Hotel Ambika International im kleinen Ort Bainduru. Wir sind als Europäer und Velofahrer so etwas wie DIE Gäste des Tages, hier, wo es weit uns breit keine weissen Nasen gibt. Das Management lässt es uns an nichts fehlen. Und da es eine Bar gibt, wird Alkohol ausgeschenkt, was in den Restaurants sonst nirgends der Fall ist. Also zuerst ein kühles Bier und die Füsse ausstrecken! Fahrrad-Feierabend vom Angenehmsten.
Im Umgang mit Alkohol folgt Indien eigenen Gesetzen, die seit Jahrzehnten immer wieder zu Diskussionen führen. Die Prohibition, also das völlige Verbot von Herstellung und Ausschank alkoholischer Getränke, existiert in drei Bundesstaaten sowie in zwei Teilen anderer Bundesstaaten. Mahatma Gandhi hat das Trinken von Alkohol vor fast hundert Jahren verabscheut und zur Abstinenz aufgerufen. Dass man Bier und Wein geniessen kann, ohne betrunken zu sein, hat er seinen Landsleuten offenbar nicht zugetraut. Hinduistische, buddhistische und jainistische religiöse Führer verurteilen den Konsum von Alkohol nach wie vor, den muslimischen Indern ist er durch den Koran verboten.
In jeder Bar gibt es kleine, abgetrennte Séparées, wo geschützt vor neugierigen Blicken mitunter schon morgens getrunken wird. Oft Hochprozentiges und nicht wenig, bevor sich Inder wieder hinters Steuer oder auf den Roller setzt. Unter diesem Aspekt bekommt der Verkehrswahnsinn für uns eine zusätzliche, gefährliche Dimension.
Religion kann schwer auf den Schultern der Menschen lasten, die Versuchung ist, wie überall auf der Welt, gross, das richtige Mass zu finden, schwierig. Auch in Indien. Wir haben inzwischen eine feine Nase dafür entwickelt, die meist sehr kleinen, versteckt liegenden Bier- und Weinshops (Indien keltert eigenen Wein!) an den Ortsrändern aufzuspüren. Und ja, wir trinken nach einem langen, heissen Velotag gerne ein kühles Bier.
Im Hinduismus ist vegetarische Ernährung weit verbreitet (25 bis 35% der Bevölkerung Indiens gelten als Vegetarier). Allerdings gibt es viele Minderheiten, die in der Ernährung davon abweichen. Einige essen ab und zu Fleisch, manche nur an Feiertagen, viele nie welches, weil sie sich Fleisch nicht leisten können. Das gleiche gilt für den Genuss von Eiern. Manche Hindus essen Fleisch aber keine Eier. Andere essen weder Fleisch noch Eier. Es gibt noch andere Varianten, wie wir im Hotel Ambika schmunzelnd erleben.
Unterhaltsames Indien
Nach einer ruhigen Nacht sitzen wir erwartungsvoll im vegetarischen Restaurant, möchten gerne ein Omelett zum Frühstück bestellen. Nein, wir haben keine Eier, das ist ein vegetarisches Restaurant, meint der Kellner freundlich. Kein Problem, wir haben das vermutet. Also nur einen Kaffee und später zwei Bananen, halb so wild. Da erscheint ein anderer Angestellter mit einem Dutzend Milchbeutel, die er im Kühlschrank verstaut. Keine Sojamilch, sondern Kuhmilch. Die Milch ist ganz frisch, meint der Kellner ausweichend auf meine Frage, wieso es hier, im vegetarischen Restaurant, Milch gibt, aber keine Eier. Wir sind wohl zuwenig Vegetarier (nämlich gar keine), um das zu verstehen. Vor drei Tagen gab es in einem Hotel erst mittags Eier. Indische Hühner sind Spätaufsteher :)
Das ist das Heitere an Indien, jeden Tag wird für Unterhaltung gesorgt. Die indische Logik ist für uns oft zum Schiessen komisch und um eine Ausrede sind die Inder eh nie verlegen.
Seit mehr als zwei Stunden müht sich der airtel-Angestellte immer noch mit Bea's Smartphone ab, um endlich die SIM-Karte zu aktivieren. (Ein Porträtfoto von Bea muss zur Identifikation an Airtel, eine der indischen Telefongesellschaften, geschickt werden. Das Bild muss mit dem Foto im Pass übereinstimmen. Nach sage und schreibe 18(!) Bildern klappt es endlich, kurz bevor Bea die Nase voll hat.). Auf den Einwand von ihr, dass das Aktivieren in Nepal innerhalb von zehn Minuten abgeschlossen war, meint der junge Mann treuherzig, dass sein Land Indien auch viel, viel grösser sei, als Nepal.
Bea gefällt das Hotelzimmer nicht. Das kleine, vergitterte Fenster lässt kaum Tageslicht ein. „No, no, it's not dark“ meint der Hotelier und knipst das Licht an.
Die Helmpflicht gilt in Indien nur für den Fahrer eines Motorrads, nicht für seine Beifahrer und in Indien sitzen oft vier oder mehr Personen auf einem Motorrad. Diese sind jedoch gesetzlich nicht verpflichtet, einen Helm zu tragen. Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Sikhs sind ebenfalls von der Helmtragpflicht entbunden weil sie einen Turban tragen und diesen Kopfputz als schützende Hand Gottes verstehen. Sikhs, die Militärdienst leisten, brauchen ebenfalls keinen Helm zu tragen.
Durch Kaffee- und Teeplantagen
Wir verlassen die Küste und knabbern am Dekkan-Plateau, das uns über die Westghats* in vielen Kurven bis auf 1150 m ü.M. hochschwitzen lässt. Die würzigen, teilweise steilen Tagestouren fordern – unglaublich, welche Mengen Wasser wir oben reinschütten und wie wenig erst am Abend(!) ins Kloo plätschert.
(*Die Westghats sind ein Gebirge im Westen Indiens, das am Rande des Dekkan-Plateaus verläuft und dieses vom schmalen Streifen der Küstenebene und dem Arabischen Meer trennt. Der Gebirgszug der Westghats verläuft auf einer Länge von etwa 1600 km durch die Bundesstaaten Maharashtra,Goa, Karnataka, Kerala und Tamil Nadu fast bis zur Südspitze des indischen Subkontinents.)
Dafür ist das Pedalen ganz nach unserem Geschmack und das Fahren durch den sattgrünen, schattigen Urwald hammermässig. Regelmässig werden wir aufmerksam von Resusaffen-Familien beobachtet und auch mal angefaucht, wenn wir ihnen beim Fressen am Strassenrand zu nahe kommen (Autofahrer füttern Süssigkeiten). Das tollste aber ist, dass Bea, wieder ganz die „Alte“, weil gesund, selbst die steilsten Passagen im Sattel in die Pedale stampft. Einmal mehr: wir sind Glückspilze!
Velotourenfahrer treffen wir keine und Velo fahrende Inder schon gar nicht. Würde man den Einheimischen die Töffs und Roller wegnehmen, Indien würde nach einem Tag völlig stillstehen. Auf der schmalen, kurvenreichen Strasse ist das Hupkonzert zeitweise kaum mehr auszuhalten. Einige hundert Male pro Tag dröhnt man uns zu – Oberschlaumeier haben an ihren Motorrädern gar Autohupen montiert. Waaahhnnsinn . . .
Pedalen, dort wo der Pfeffer wächst
Nach dem Pilgerstädtchen Sringeri tauchen wir erneut in den Urwald ein und gleichzeitig steigt uns ein feiner, süsser Geruch in die Nase, den wir erst nicht einordnen können. Hier blüht tatsächlich Kaffee. Über dutzende Kilometer geniessen wir das Pedalen durch eine fremde Welt, die wir so nicht erwartet hätten. Indien ist achtgrösster Kaffeeproduzent der Welt und produziert die milde Kaffeesorte Robusta. Endlich mal wieder einen richtigen Bohnenkaffee geniessen, das ist hier in den Kaffees an der Strasse möglich. Allerdings für uns schwarz und stark, nicht mit Milch und gesüsst, wie ihn die Inder lieben.
Das schützende Dach der grossen Bäume schafft Halbschatten nicht nur für den Kaffeeanbau, sondern ist auch ideale Voraussetzung für eine interessante Kletterpflanze, den echten Pfeffer, der ursprünglich aus Indien stammt und mit dem die Region in Südwest-Indien ehemals reich wurde. Genussradeln vom Schönsten, dabei vergessen wir zeitweise sogar den lästigen Verkehr.
Die Landschaft ist offener und flacher geworden. Auf den vierzig Kilometern von Belur bis Hassan erleben wir ein Phänomen, das in solchen Dimensionen wohl nur in Indien möglich ist. Tausende Pilger streben in glühender Sonne der Pilgerstadt Belur zu. Eine endlose Menschenkolonne in Sandalen zieht an uns vorbei; Frauen, Männer, Kinder, etliche tragen ihr Reisegepäck auf dem Kopf, viele humpeln, manche laufen barfuss, die Farbe Orange bestimmt das Bild. Es soll Pilgerer geben, die 400 Kilometer laufen, wie wir erfahren. Geschlafen wird auf freiem Feld, Busse und Lastwagen transportieren Gepäck, Essen und Getränke, Eisverkäufer machen gute Geschäfte. Eine logistische Meisterleistung während dieser gut vierzehn Tage dauernden Pilgerzeit. Eine für uns fremde Welt, die grössten Respekt verdient.
Ausblick auf die Indientour
Die restliche Tour bis in die alte Kolonialstadt Kochi bietet wenig Spektakuläres. Sehr zu Pit's Verdruss hat es mit dem Durchfahren des Bandipur Nationalparks im Grenzgebiet der Bundesstaaten Karnataka, Tamil Nadu und Kerala mit dem Velo nicht geklappt. Zu heikel wegen der Tiger aber vor allem seien die Elefanten gefährlich, meinen die Parkwächter und bleiben hart. Also auf einen Pickup verladen und ab durch die Mitte.
Grossartig und spektakulär, kalt und sehr heiss, freundlich aber trotzdem immer wieder nervig, laut und rücksichtslos, wunderschön farbig aber leider über weite Strecken dreckig und zum Himmel stinkend, sehr religiös, im Strassenverkehr dem Recht des Stärkeren verpflichtet, wo Machos unter sich sind, das war Indien, wie wir es erlebt haben.
Indien kann Glücksgefühle vermitteln, für uns vor allem im Norden, und wenig später im übertragenden Sinne Magenschmerzen verursachen. Das grosse, bevölkerungsreiche Land war für uns kein einfaches Fahrradland. Aber ohne den Abstecher zum indischen Subkontinent würde uns viel fehlen!
Auf zu neuen Ufern! Wir freuen uns sehr und hoffen, dass der Koronavirus keinen Strich durch die Rechnung macht.
Ab 1.1.2020
Weidmanns-Heil zur Geisterstunde
Die 15 Millionen-Metropole Mumbai ist uns zum Velofahren nicht ganz geheuer, obwohl sie sich hier auf der City-Halbinsel von der Schokoladenseite zeigt, auch was die Hotelpreise angeht.
Nach einer sehr lauten Silvesterparty im Hotel SunCity mit immer gleichem, langweiligen indischen Diskogedröhne machen wir uns am ersten Morgen des neuen Jahres bald aus dem Staub. Vielleicht sind wir für derlei Bum-Bum-Partys nicht mehr im richtigen Alter.
Viel besser gefällt uns die schmale, kurvenreiche Strasse entlang der indischen Westküste in den Süden, ab und zu unterbrochen durch kleine Fähren, die Flussmündungen queren. Da wir das „Böötle“ lieben, lassen wir uns die kurzen Verschnaufpausen gerne gefallen. Was aber nicht heissen muss, dass das mal in die Hosen gehen kann, wie z.B. hier, in der Nähe von Kelshi.
Auf meiner OSM-Karte ist ein Fähranleger eingezeichnet, und ein Anleger ohne Fähre macht ja wirklich keinen Sinn, oder? Hier gibt es definitiv keine Fähre. Punkt. Die drückende Hitze sind wir (noch) nicht gewohnt, staubtrockene Strassen im Rohzustand dagegen schon lange; weit und breit gibt es kein Dorf. Der Nachmittag neigt sich seinem Ende zu. Unsere Vorräte bestehen aus einer Büchse Tunfisch, chinesischer Nudelsuppe, einer leeren Benzinflasche und ebenso leeren Wasserflaschen (fahrlässig, wir Anfänger!). Also nix mit wild Zelten.
Da stoppt tatsächlich das einzige Auto, das uns seit zwei Stunden entgegen kommt, neben uns. „Wo wollt ihr hin? Zum nächsten Dorf, dort wo sich die Brücke über den Fluss befindet, sind es 15 km, aber da gibt es kein Hotel. Kommt mit uns mit, ich habe ein grosses Ferienhaus nicht weit von hier, ca. zwei Kilometer (es sind dann fast fünf - retour, aus der Richtung, aus der wir mühsam im Kriechgang gekommen sind), und Abendessen gibt es auch“. Der junge Mann aus Mumbai braucht keine Überredungskünste und wir nur einen Wimpernschlag, um uns zu entscheiden. Seine zwei älteren Begleiter nicken uns aufmunternd zu, mitzukommen. In diesem Moment lieben wir die Inder sehr.
Das Ferienhaus, seit Jahren im Bau und mit noch fehlender Inneneinrichtung, liegt wunderschön über einer weiten Bucht, umgeben von alten Mangobäumen. Wir bekommen ein eigenes Zimmer und da wir ja die Betten dabei haben, passt das bestens. Bea kämpft immer noch mit ihrem üblen Bronchialhusten, hat hin und wieder Fieber. Sie ist froh, sich eine Weile hinlegen zu können, um zu schlafen.
Für die Männer gibt es erst mal einen Apéro auf der Dachterrasse - der sich bis zum späten Abend hinzieht. Da niemand Lust zum Kochen hat, wird kräftig mit Cola-Rum und anderem Hochprozentigem kompensiert. Die paar Erdnüsse geben einen schlechten „Boden“ bei so viel Alkohol. Während die Männerrunde die Welt aus den Angeln hebt, wird mein Englisch immer flüssiger; wir geniessen die laue Nacht, während Bea seit Stunden ihren Gesundheitsschlaf hält. „Jetzt gehen wir jagen!“ Hä? Was, jetzt, mitten in der Nacht?
Ist bestimmt nicht legal. Und die Polizei? „Die Herren von der Streife sind morgen Abend bei mir zu Gast, kein Problem“ meint unser Gastgeber schmunzelnd. Er macht tatsächlich keine Witze. Die Jagdflinte steht seit dem Nachmittag in der Zimmerecke. Puhh, ohne mich! Mit schwerem Kopf krieche ich in den Schlafsack.
Die Jagdgesellschaft kommt gegen zwei Uhr morgens zurück, natürlich ohne erlegten Hasen. Ob es am Zielen gelegen hat?
Nach ein paar Dankeszeilen steigen wir am Morgen ausgeruht (Bea) in die Sättel. Der schnarchende Jäger-Chor ist bis zur Strasse zu hören.
Das kurvige Küstensträsschen mit den kleinen Dörfern und fast keinem Verkehr ist eine Wucht! Bissig sind zuweilen die steilen bis sehr steilen aber relativ kurzen Anstiege, wenn sich die Strasse von einem Fluss wieder aufs Küstenplateau hochschraubt. Es kommen mehr Höhenmeter zusammen, als angenommen. Spendet kein Wald etwas Schatten, ist es drückend heiss. Wohltuend dafür der Wind in Meernähe.
Über etliche Tage pedalen wir durch schier endlose Mangowälder. Noch sind die Früchte sehr klein; die Erntezeit wird erst gegen Ende April beginnen.
Der Bla-bla-blaaa? Blaaa! Bla-bla-bla-bla-blaa? Bla!-Bla!-Bla? Ha-ha-ha-ha!
Bla-bla-Inder.
Von dieser Spezies gibt es vermutlich einige hundert Millionen im Land, besonders viele davon sind Männer, was in Europa nicht typisch wäre. Nebenbei bemerkt, gibt es in etwa sechs Jahren gemäss UNO-Prognose so viele Inder wie Chinesen, nämlich ca. 1,45 Mia.
Der Bla-bla-bla-Inder hat die Angewohnheit, bis spät abends im gefliesten Hotelgang mindestens eine halbe Stunde lautstark zu telefonieren, um – bla-bla-bla – das Gespräch morgens um sechs Uhr (oder früher) wieder aufzunehmen. Weil er allein im Hotel übernachtet, darf der Bla-bla-bla-Inder um Mitternacht herumbrüllen und die Türen knallen, bis ich dann doch – es ist mir eigentlich sehr zuwider – ein lautes Machtwort sprechen muss. Zuviel ist zuviel. Oder, wie in Batal erlebt, steht der Bla-bla-bla-Inder direkt vor unserer Unterkunft in gemütlicher Herrenrunde und erklärt seinen Kollegen die Welt um dann das Autoradio laut aufzudrehen und noch weiter zu grölen. Nur der Lauteste wird gehört. Morgens um halb sechs geht der Nonses – denn es kann sich nur um Nonsens handeln! Wer kann so früh schon viel Schlaues von sich geben? - eine volle Stunde weiter, bis – endlich – die Autotüren knallen und abgefahren wird.
Rücksicht auf Schlafende zu nehmen oder mindestens den Ton zu mässigen, auf die Idee würde der Bla-bla-bla-Inder niemals kommen, denn so etwas ist ihm völlig fremd. So fremd, wie heilige Kühe schlachten.
Wen wundert es, dass die vielen Strassenhunde die Gewohnheiten des Bla-bla-bla-Inders aufnehmen. Sie liegen tagsüber an der Sonne (was Inder nicht tun) um nachts ausgeruht den Bell-Terror in die Quartiere zu tragen. Oft über längere Zeit und ganz sicher mit Wiederholungen.
Gerne hätte ich schon einige Male meine gute alte Steinschleuder aus Bubentagen dabei gehabt. Aber das wäre nicht fair. Warum die Hunde büssen lassen, was die Ignoranz der Menschen ihnen antut, indem sie Abfall herumliegen lassen und nichts tun, damit sich die Viecher nicht unkontrolliert vermehren.
Ab 25.12.
An Grenzen kommen
Nepal zum Abwinken
Eigentlich war geplant, die 250 Kilometer von Hetauda bis ins südlicher gelegene Patna in Indien mit dem Velo zu fahren. Die staubig-stinkende Realität zwingt uns vorher zu einer Planänderung.
Nicht der Lastwagenverkehr ist das Problem bis Raxaul an der Grenze (es gibt keine Alternativroute), sondern der grässliche Staub, der die Bronchien verklebt und Kopfschmerzen verursacht.
Wir müssen auf den letzten dreissig Kilometern gewaltig unten durch. Die Sonne hat sich buchstäblich aus den Staub gemacht, was bestens zu unserer Stimmung passt. Smog mischt sich mit Nebel und Dreck zu einer klebrigen Paste, alles um uns herum versinkt im Grau, als wäre es schon Abend, dazu kommt die Kälte, die unangenehm unter die Kleider kriecht. „Gring ache u pedale“ hiesse die Devise, wenn Bea's Gesundheit top wäre. Aber sie kann kaum Luft holen, hustet erbärmlich und schlottert zeitweise wie Espenlaub. Keine gute Mischung zum Tempobolzen. Tagsüber trinken wir ab und zu einen süssen Cay an einem Strassenstand, aber Hunger? Jede Lust am Essen ist uns bei dem Dreck vergangen.
Adieu, Nepal. Es war eine tolle Zeit, vor allem die Tour zum Annapurna Base Camp und die drei Tage im Chitwan Nationalpark werden wir nicht vergessen. Nepal ist ein bisschen wie die Schweiz, den Satz hören wir öfter. Wir meinen, dass es weniger Gemeinsamkeiten gibt, als von den Nepalesen angenommen. Aber wir lassen ihnen die Illusion gerne.
Indien zum Zweiten
Raxaul, Indien. Keine Stadt könnte besser zu unserem heuten Tag passen, als Raxaul. Alle negativen Adjektive, die uns zu Indien einfallen, treffen hier zu. Unglaublich, der viele Müll in den ungeteerten Strassen. Im Sommer muss die hochtoxische schwarze Brühe in den Kanälen der Stadt zum Himmel stinken. Überall kauern Einheimische um kleine, stinkende Abfallfeuer, halten die nackten Füsse nah an die Glut um sich bei Temperaturen von knapp zehn Grad aufzuwärmen. Nur wenige besitzen eine warme Jacke und Schuhe. Die Menschen tun uns leid.
Hunde, Schweine, Ziegen und Kühe wühlen im Abfall, streiten sich um Fressbares und hinterlassen ihren eigenen Dreck, dazwischen mächtige Stiere, um die die Inder einen weiten Bogen schlagen – wir auch. Ziegen und Hühner werden am Strassenrand geschlachtet, Fische liegen auf dreckigen, alten Reissäcken am Boden und warten auf Käufer. Ob es hier überhaupt Hotels gibt?
(Während ich die Zeilen schreibe, läuft auf einem indischen TV-Sender eine interessante Doku über die grossen Probleme, in Indien genügend Trinkwasser zu finden, respektive die Grundwasserquellen zu schützen. Indien leistet sich ein prestigeträchtiges, viele Milliarden teures Space Program um auf dem Mond Wasser zu finden und dann nichts weniger als bis zum Mars weiter zu fliegen. Kein schlechter Scherz, leider.)
Wo sind wir bloss hingeraten? Eine nie endende Verkehrslawine aus Lkw's, rostig-verbeulten Autos, Fahrrädern, Tuck-Tucks und vielen, vielen Motorrädern deckt das Elend mit Dauergehupe zu.
Purer Wahnsinn! Wir möchten einfach nur möglichst rasch weiter. Frohe Weihnachten, heute
am 25. Dezember.
Und doch erfährt der heilige Tag am Abend einen positiven Abschluss, wie könnte es anders sein.
Erst mal unser altes Indienproblem: wir bekommen als Ausländer kein Hotelzimmer. Das einzige Hotel der Stadt, das Ausländer beherbergt, verlangt, dass wir die Velos in der offenen Tiefgarage einstellen, was für uns überhaupt nicht in Frage kommt. Die Nerven liegen blank, der Ton wird unhöflich lauter. Was tun? Bea versucht unser Glück mit zwei jungen hilfsbereiten Burschen bei einem Hotel etwas weiter weg, ich bewache die Fahrräder und der Typ an der Rezeption telefoniert mit dem Hotelbesitzer, der – ich kann es nicht glauben - ohne Diskussion erlaubt, dass wir die Räder ins Hotel nehmen dürfen. Puhhh – ein Felsbrocken donnert ins Tal! Einmal mehr schätzen wir auf die grosse Hilfsbereitschaft der Inder. So toll!
Es gäbe da noch die Geschichte über das Nachtessen mit dem jungen Burschen, der uns geholfen hat, ein Hotel zu finden und den Schrecken am anderen Morgen. Aber das wäre zu viel nerviges Indien, genug ist genug.
Ja, Indien kann sehr, sehr anstrengend sein. Tage wie dieser sind selten, zum Glück. Wer auf einen Baum klettert, kann fallen. Wir hoffen, auch in Zukunft immer wieder auf den Füssen zu landen.
50 Kilometer sind es bis Motihari, davon 22 üble, staubige Buckelpiste, was wir aber am Morgen noch nicht ahnen. Offenbar habe ich das Flair, immer die miesesten Strassen zu finden. Wenigstens gibt's keinen Verkehr, ist ja auch nicht schlecht.
In den wenigen Dörfern spricht niemand Englisch. Die Kälte scheint die Menschen zu lähmen; sie kauern um die kleinen Reisstrohfeuer, die mehr rauchen und stinken als Wärme abgeben. Selbst die Hunde rollen sich in der warmen Asche zusammen. Ziegen und Wasserbüffel tragen grob zusammengenähte Mäntelchen aus Jute gegen die Kälte, obwohl sie kaum so frieren wie die Menschen. Es sei ungewöhnlich kalt, meint ein junger Mann.
Velofahren ist kein Problem, unangenehm sind aber die kalten Hotelzimmer. Es gibt keine Heizungen und das Duschwasser ist sehr erfrischend, weil kalt. Luxusproblemchen von verwöhnten Europäern.
Vor und nach Dörfern kurven wir vorsichtig um Kothaufen, die aber nicht von Hunden stammen. Für Hindus sind sämtliche Ausscheidungen des Menschen unrein, man berührt sie nicht, sie gehören nicht ins Haus. Selbst Familien, die eine Toilette besitzen, benutzen sie oft nicht. Das ist zumindest in ländlichen Gebieten mit armer Bevölkerung so. Darum werden kleine und grosse Geschäfte auf dem Feld, im Wald und vorwiegend von Frauen aus Furcht vor sexueller Belästigung eben auf der Strasse erledigt. Böse Zungen behaupten, dass „Indien das grösste Scheisshaus der Welt“ sei. Sicher masslos übertrieben und ungerecht, aber hier trifft die Aussage zu.
Jetzt gehts flott vorwärts. Die Strasse bis Motihari ist top, dafür schwillt der Verkehr an. Wir finden gleich auf Anhieb ein tolles Hotel mit vielen helfenden Händen. Endlich eine heisse Dusche – wir glauben es nicht. Und das Sahnehäuptchen obendrauf ist der Heizstrahler, den man uns ins Zimmer stellt. Welch ein Luxus! Bea ist sehr froh um zwei, drei Tage Pause. Ihr Husten hört sich fürchterlich an und Schweissausbrüche mit nachfolgendem Frieren bedeuten nichts Gutes.
Seit ein paar Tagen ist definitiv klar, dass wir mit dem Zug quer durch Indien nach Mumbai an der Westküste fahren. Zum Velölen ist die Strecke wenig geeignet. Viel Verkehr, dicht besiedelt, flach und landschaftlich wenig reizvoll, dafür sind uns die drei Monate, die wir noch im Land bleiben dürfen, zu schade. Und dass wir schon hier einen Zug nehmen können und nicht bis nach Patna pedalen brauchen, passt erst recht.
Zug fahren in Indien - nichts für Warmduscher
Wir wissen – Internet sei dank – dass von hier nur zwei Züge pro Woche direkt nach Mumbai fahren (einer am Sonntag, also in zwei Tagen), Billette kaufen nervig sein kann, man die Velos aufgeben muss, die Züge meist rappelvoll sind und früh buchen von Vorteil wäre. Also rasch ab zum Bahnhof. Wir haben Glück, keine lange Kolonne vor dem Schalter und der Beamte spricht leidlich Englisch. „Am Sonntag nach Mumbai? Nein, geht nicht. Ist erst am 14. Januar(!) möglich. Velos mitnehmen OK“. Nein, das kann nicht sein! Warum das? „Keine Plätze frei“. Wir schieben die Visitenkarte des Hotels rüber und bitten ihn, die aufgeschriebene Nummer anzurufen. Vielleicht hilft etwas Vitamin B. „Nein, anrufen ist nicht möglich, aber kommen sie morgen Samstag um 10.00 Uhr wieder, dann können sie Fahrscheine kaufen“ Hä? Wieso das jetzt auf einmal? Nach einigem Hin und Her kapieren wir, dass Billette am Schalter frühestens 24 Std. vor der Abreise zu kaufen sind.
Euphorisch schnappen wir uns ein Tuck-Tuck zurück ins Hotel. Positiv denken, dann wird das morgen schon klappen. Das tut es dann auch. Nach zehn Minuten halten wir die kostbaren Papiere in den Händen. Puhh, erste Hürde geschafft!
Wir marschieren mit den Velos gleich zur Gepäckaufgabe. Zweite Hürde. Der Zug fährt morgen um 07.22, dann ist es schlauer, die Göppel schon heute aufzugeben. Solche Kunden mit Velos gibt's hier offenbar selten. Das Ausfüllen der Formulare dauert (der Chef schreibt, drei Kollegen kommentieren), ein Helfer marschiert mit unseren Pässen los, um Fotokopien zu machen (ausserhalb des Bahnhofs, ich gehe mit). Nach einigen Rückfragen ist der Preis für den Velotransport endlich klar. Die Velos bekommen ein Stück Wellkarton mit der handschriftlichen Enddestination umgehängt, zur Sicherheit wird noch sorgfältig ein Vermerk auf die Schutzbleche geklebt – super, alle sind zufrieden, alles paletti! Die Inder sind Meister im Improvisieren.
Wir bezahlen für die 46 Stunden dauernde, direkte Zugfahrt nach Mumbai (2050 km, 75 Zwischen-halte) 110 Franken in der besten Klasse, inklusive Velos, versteht sich.
10.22, 11.22, 12.22, 13.22, 14.02, 14.45
Nein, das sind nicht Abfahrtszeiten verschiedener Züge, es sind die angekündigten neuen Abfahrtszeiten unseres Zuges! Drei Stunden Verspätung gleich zu Beginn. Unter anderem wegen des Morgennebels kann der Zug nicht schnell fahren. In Indien tummelt sich auf den Geleisen alles was vier und zwei Beine hat. Gefahren wird darum auf Sicht, begleitet von nahezu ständigen Hornstössen.
Dreimal statte ich der Gepäckaufgabe einen Besuch ab, um wirklich sicher zu sein, dass unsere Velos dann, wenn es endlich los geht, auch eingeladen werden. „No, problem, no problem“. Ich bin nicht wirklich beruhigt, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir reisen im Sleeper-Wagon, zwei Waggons hinter der Lokomotive, im letzten Wagen sollten unsere Rösser stehen. Der ganze Zug hat eine Länge von mindestens 400 Metern und hält nur drei Minuten. Also nix mit Nachschauen, ob die Velos verladen sind.
Wieder einmal geniessen wir als Ausländer eine (hier willkommene) Extrawurst, indem wir von irgend einem Chef in den Warteraum gebeten werden, der eigentlich Personen der Regierung vorbehalten bleibt. Anstelle edler Aktenmappen aus feinem Rindsleder schleppen wir grosse, blaue Taschen eines schwedischen Möbelhauses mit unserem Gepäck. Wir sind unsere eigene Regierung. Wenigstens zieht's hier nicht und das Gratis Wi-Fi funktioniert. Andere westliche Touristen sehen wir in Motihari keine. Die Inder nehmen die langen Wartezeiten stoisch gelassen, wir auch, worüber wir selber staunen. Drei Minuten oder drei Stunden Verspätung kümmert hier kaum jemanden; was soll's, wir sind einfach froh, dass man uns überhaupt mitnimmt.
Wir reisen bequem und träumen angenehm in unserem Schlafwagen. Das Essen, das ans Bett serviert wird, schmeckt vorzüglich und die Steckdosen in jedem Abteil sind ein willkommener Luxus. Nach 52 Stunden rollen wir endlich in Mumbai ein. Endstation. Die Stunde der Wahrheit ist da. „Cycle ?“. „No, no, bicycle“. Ich mache dem Inder am Gepäckwagen mit kreisenden Handbewegungen klar, was ich suche. Erst mal kommen hinter der massiven Schiebetüre grosse, weisse Gepäckballen, gestapelt bis zur Waggondecke, zum Vorschein. Nein, hier können die Velos nicht sein, bestimmt ein Irrtum. „No, problem, wait ten minutes“ meint der Typ gelassen und schiebt mich auf die Seite.
Wenn in Indien der Satz „no problem“ fällt, wird's spannend
Unter den grossen Gepäckstücken kommen 25 kg Säcke zum Vorschein, die sehr, sehr schwer sein müssen, so wie die Träger keuchen. Und dann erscheint das Vorderrad eines Motorrads. „Cycle ?“. „No, no, two bicycles!“. Mir schwant Schlimmes. Tatsächlich, stabile Schweizer Qualität kommt unter all den Säcken zum Vorschein. Glück gehabt, nichts ist gebrochen, lediglich ein Low-Raider (Gepäckträger vorne) und die hinteren Schutzbleche sind verbogen. Das lässt sich mit wenigen Handgriffen richten.
Zug fahren in Indien ist ein spezielles Abendteuer! Wir sind um Erfahrungen reicher, die wir trotz allem nicht missen möchten.
Ab 5.10.
Weiter nach Osten – interessante Blicke in die vielen Gesichter Indiens
„Pine Valley“ stand vorhin bei der Einfahrt zu einer Villa. Erholsam, ruhig und mit wenig Verkehr erleben wir das bewaldete Tal von Kumarhatti nach Nahan tatsächlich. Viele Kurven, eine tolle Strasse, gesäumt von mächtigen Pinien, machen das Pedalen zum reinen Vergnügen, ja wir dürfen meist gemütlich abwärts rollen, aufmerksam beobachtet von Makakken-Familien. Mehr als 1500 Höhenmetern sagen wir adieu, so viel Spass war schon lange nicht mehr!
Wie schon in Solan tauchen wir in Nahan in einen wunderschönen, farbigen Markt ein. Touristen gibts hier keine, entsprechend interessant sind die beiden Velöler aus der Schweiz. Fast noch interessanter als die Festivitäten zu Ehren der drei Stadtheiligen. Wieviele Selfies mit uns wohl existieren? Keine Ahnung. Welcome to India! Ja, wir fühlen uns wirklich willkommen. Immer wieder Hände schütteln, erklären woher wir kommen und wohin wir unterwegs sind. Verrückte, farbige, laute indische Welt, heute ist sie für uns absolut in Ordnung.
Manchmal will der Funke nicht überspringen, wie in Dehradun. Eine dreckige Stadt ohne Charme. Ausgebucht, die Velos müssen draussen bleiben, kein Fenster im Zimmer, dreckstarrendes Loch, Ausländer nicht erwünscht – kurz bevor wir im Roten drehen, klappt es doch noch. Eineinhalb Stunden und sechs Hotelabsagen später finden wir endlich eine Unterkunft die uns allergnädigst aufnimmt. Das ist uns noch nie passiert. Genauso beschi . . . sieht es mit Möglichkeiten zum Essen aus. Wir kaufen Tomaten, Gurken, einen Rettich, Kartoffelchips, Salznüsse (eine Büchse Tunfisch schleppe ich schon lange mit) und zwei Flaschen Bier (kalt!) und verwandeln unser Bett in den köstlichsten Picknickplatz, den wir uns vorstellen können. Heute könnt ihr uns mal!
Wir dürfen Indien das erste Mal bereisen, und doch kommt uns vieles sehr bekannt vor, wie wir täglich mit Schmunzeln feststellen. Das liegt an den zahlreichen Parallelen zu Staaten in Südamerika, wie wir sie erlebt haben. Zum Beispiel das Machogehabe und die Freude an Motorrädern, Frauen sind auch hier fleissiger und tragen die Hauptlast der schweren täglichen Arbeit, das immer gleiche Warenangebot, Offenheit und grosse Gastfreundschaft. Hier wie dort gibt es mehr Autowerkstätten als Restaurants, viele Einrichtungen vergammeln, weil kein Unterhalt gemacht wird (z.B. sanitäre Anlagen), das Flair, eigenes Unvermögen dem Staat und seiner korrupten Regierung anzulasten. Um Ausreden sind die Einheimischen nie verlegen. Unangenehmes, wie z.B. der viele Abfall, wird weggelächelt. Trotz allem ist Indien ein Erlebnis. Ein Blick über den Schweizer Tellerrand schadet ohnehin nie. Sei es nur, um festzustellen, wie unglaublich gut es uns in der Heimat geht.
Mit der Shimla-Kalka Railway (Toy-Train) fahren wir in sechs Stunden nach Kalka. Die Bahnstrecke wurde Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag der britischen Kolonialregierung gebaut, um den Transport zwischen Delhi und Shimla zu vereinfachen und zu beschleunigen. Am 9. November 1903 wurde die Strecke offiziell eröffnet. Die Strecke ist insgesamt 96,5 Kilometer lang und überwindet auf dieser Distanz einen Höhenunterschied von 1.420. Zusätzlich zu der großen Steigung werden auf der relativ kurzen Strecke insgesamt 864 Brücken (viele davon Viadukte), 102 Tunnel (der längste davon 1,14 km lang), 919 Kurven sowie 18 meist kleinere Bahnhöfe passiert bzw. durchfahren.
Wir tauchen ein in den lauten, stinkenden Verkehrswahnsinn von Rishikesh, heilige Stadt und Pilgerort der Hindus am heiligen Ganges. Hier ist der später mächtige Strom noch ein breiter, erstaunlich sauberer Fluss, der träge dem Golf von Bengalen zufliesst.
Am östlichen Flussufer leuchten Tempel in der Abendsonne, hier gibt es viele Ashrams (in Indien klosterähnliche Meditationszentren). Offenbar haben schon die Beatles in Rishikesh meditiert. Heute machen ihnen das zahlreiche indisch gekleidete Touristen (mehrheitlich weiblichen Geschlechts) aus dem Westen, mit rotem Bindi auf der Stirn und verklärtem Blick, nach. Wer will, kann sich von einem Strassen-Ohrenputzer(!) die Gehörgänge reinigen lassen. Wir verzichten dankend. Nicht die Ohren machen uns zu schaffen, sondern der Magen, weil es in der heiligen Stadt weder Fleisch noch Bier gibt. Das war uns nicht bewusst. Irgendwann werden wir Rost ansetzen, soviel Wasser wie wir trinken. Auf der schwankenden, schmalen Hängebrücke über den Ganges drängen sich die Menschen wie in einem Sardinenschwarm. Ist man auf der Brücke, gibt es kein zurück mehr. Ab und zu machen schrille Schreie das Chaos perfekt, nämlich dann, wenn Pilger den fauchenden, Zähne fletschenden Makakken zu nahe kommen, die in den Tragseilen turnen.
Nach zwei Pausentagen fällt der Abschied leicht. Wir pedalen erst durch Wald und später entlang eines Kanals. Bei so wenig Verkehr kann die Seele baumeln. Velofahren ist soo schön!
Eigentlich war geplant, Städte zu umfahren und kleine Nebenstrassen über Land zu nehmen. Rasch holt uns die Realität ein. Es gibt praktisch keine Unterkünfte und wir sind gezwungen, auf staubigen Landstrassen mit lärmigem Verkehr in die grossen Ortschaften zu rollen. Macht wenig Spass, dafür leisten uns ständig junge Burschen auf Motorrädern Gesellschaft, die vor allem mit Bea Selfies schiessen und meist gut Englisch sprechen. Mich dagegen lachen Mädchen auf ihren Velos an, bevor sie kichernd und winkend in die Pedale treten. Es gibt Schlimmeres für einen Anfang-Sechziger :).
Apropos Übernachten. Das Zelt bleibt in Indien vorläufig im Sack. Die flache, fruchtbare Region ist dicht besiedelt; wir bleiben selten allein, selbst bei kurzen Trinkpausen dauert es keine zwei Minuten bis sich ein erster Neugieriger bei uns einfindet. Manchmal stehen sie einfach da und starren uns an. Fragt ein Inder nach dem Woher und Wohin, ist das für andere Neugierige interessant, weil der Landsmann den Umstehenden gleich übersetzt, was wir erzählen. Das wiederum veranlasst weitere Motorradfahrer zu wenden und zurück zu fahren. Innerhalb kurzer Zeit bildet sich eine Menschentraube, die die halbe Strasse blockiert. Anstrengend und oft zum Schreien komisch. Spätestens jetzt ist es Zeit, unseren Rössern die Sporen zu geben. Die Chance, ungesehen in einen Wald zum Zelten zu entwischen, ist gering.
Heute kreuzen wir den ersten schweren Unfall in Indien. Uns fröstelt. Rasch weiter. Gefahr droht nicht nur von hinten sondern oft unverhofft frontal. Halsbrecherisch wird überholt und wegen zwei Radfahrern schwenken Autofahrer kaum auf ihre Fahrspur ein. Machtspiele kann man hier vergessen, insbesondere mit dem Velo.
Bei einer kurzen Pause spricht uns ein Lehrer der nahen christlichen Schule an und lädt zum Tee ein. Nur ein paar Minuten sollen wir uns Zeit nehmen. Machen wir gerne. Ganz besonders, weil viele grosse Kinderaugen verrückte Europäer, die mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto reisen, wohl noch nie von nah gesehen haben. Diszipliniert sitzen alle in den Bänken und lauschen mit offenem Mund unserer Erzählung.
Wir erfahren vom jungen Lehrer, wie schwierig der Schulunterricht ist, an allen Ecken und Enden fehlt Geld. Kinder gehen nicht in die Schule, Eltern haben Alkohol- und Tabakprobleme. Das Schulzimmer ist ein kleiner, dunkler Raum mit nackten Wänden, einer Schiefertafel und altem, abgewetztem Schulmobiliar.
Der Lehrer klagt, dass Muslime ihre Kinder nicht in die christliche Schule schicken wollen. (Das Näherbringen des Christentums ist Teil des Schulunterrichts). Wir lesen und hören in den Medien, dass überall auf der Welt Christen diskriminiert, bedroht und sogar umgebracht werden. Könnte ein Grund im Missionieren und mangelnden Respekt vor anderen Religionen liegen?
Ganz im Südosten des Bundesstaates Uttarakhand fahren wir durch ein Gebiet in dem eine grosse muslimische Minderheit lebt. Viele Frauen sind im Tschador gekleidet, es gibt Moscheen und Muezzine rufen zum Gebet. Trotzdem die Region auf uns sehr arm wirkt, erfahren wir bei jedem Halt Gastfreundschaft, werden zum Tee eingeladen und mit Fragen bestürmt, die wir leider meist nicht beantworten können, weil kaum jemand Englisch spricht. Schmutz, Abfallhaufen in den Dörfern, in denen Schweine wühlen (wer die wohl isst?) und offene Abwasserkanäle verbreiten einen bestialischen Gestank, der uns weitertreibt und jede Lust am Essen an einem Strassenstand vergällt. So schlimm war es bisher nie. Einige (wenige) junge, verklemmte Muslime, die schon beim Anblick von nackten Zehen heisse Backen bekommen, meinen uns mit obszönen Gesten und Zurufen beglücken zu müssen, offenbar weil Bea in Shorts fährt. Uns wäre mehr gedient, wenn sie etwas Englisch sprechen würden anstatt von Dingen zu reden, von denen sie als Rechtgläubige keine Ahnung haben (dürfen). So ein saudummes Verhalten haben wir die ganzen Jahre nie in einem muslimischen Land erlebt. Im Gegenteil, die Türkei, Usbekistan und ganz speziell der Iran gehören für uns zu den tollsten Ländern, die wir bereisen durften.
Bei Bhimdatta ist die Grenze zu Nepal erreicht. Der Mahakali River muss über eine schmale Strasse, die über eine Stauwehranlage führt, überquert werden. Eine endlose Menschenschlange drängt sich durch das Nadelöhr. Frauen schieben schwer bepackte Fahrräder. Ochsenkarren und einzelne PWs versperren die Strasse. Wir dazwischen, für einmal kaum beachtet. Und plötzlich taucht sie aus dem Nichts auf, die rote Schrifttafel „Beer Bar“, einfach so, mitten im Niemandsland zwischen Indien und Nepal. Wir sind uns rasch einig, jetzt haben wir ein Kühles mehr als verdient! Nepal gefällt uns schon jetzt!
Ab 16.9.
Äpfel, buntes Indien und tierische Diebe
Wir fahren weiter dem Spiti-River entlang und geniessen das breite Tal und mit ihm die immer besser werdende Strasse. Übrigens sind wir vor Sarchu vom Bundesstaat Jammu und Kashmir fast unbemerkt in den Nachbarstaat Himachal Pradesh pedalt. Distanzen haben hier andere Dimensionen als in der Schweiz. Indien ist ein riesiges Land.
Offenbar eignen sich die steinigen Böden bei ausreichender Bewässerung gut für Apfelplantagen. Auf den Sandterrassen entlang des Flusses bis weit hinauf in steilste Lagen wachsen Apfelbäume. Jetzt ist Erntezeit, täglich überholen uns viele Pickups schwer beladen mit rotbackigen Früchten. Vor einer Woche war es Blumenkohl, jetzt sind es Äpfel, die ins Tiefland von Indien transportiert werden.
Von wegen weites Tal, unvermittelt wird es bedrückend eng. Die steilen Bergflanken, eigentlich nichts weiter als äusserst instabile Schutthänge, von denen vor allem bei Regen laufend Steine ins Tal donnern und die Fahrbahn malträtieren, lassen der Strasse wenig Raum. Wir wagen kaum hinzusehen, so brüchig wirken die Felsen dort wo die einspurige Strasse in die Felsen gesprengt wurde. Eine Strassenbaustelle löst die andere ab. Zwischen LKWs und Autos passt beim Kreuzen kaum eine Hand. Schauen, dass wir rasch weiter kommen. Ständig wie Maulwürfe im Dreck zu wühlen, nervt. Wir sind gespannt auf Shimla.
Dazu kommt – es sei geklagt – dass es die Briten vor siebzig Jahren verpasst haben, den lieben Indern den Unterschied von links und rechts zu erklären. Wenn sie auf ihrer linken Strassenseite fahren würden, wäre die Autohupe nahezu überflüssig und sie müssten in der Fahrschule nicht den Blödsinn „Blow Horn“ einüben, Ja, und wir wären aus dem Schneider und unsere malträtierten Ohren sowieso. Was soll's, kennen wir aus anderen Ländern. Einfach wichtig zu wissen, dass wir wissen, was die Inder ständig ignorieren, nämlich Verkehrsregeln, die es im Land tatsächlich gibt! Man würde es nicht glauben! Wir bleiben wachsam (fluchen manchmal, damit der Kessel nicht platzt), fahren dann und wann die Ellbogen auf indische Manier aus und passen die Fahrweise an, so arrangieren wir uns recht gut mit dem indischen Chaosverkehr.
Spass beiseite: Uns gefällt es in Indien, wir kommen mit seinen Bewohnern prima klar. Nicht nur das, sie sind wirklich „liebi Cheibe“. Jeden Tag gibt es viele Daumen hoch, es wird gewunken und das Smartphone aus den Autofenstern gehalten und wenn wir Hilfe brauchen ist rasch ein junger Typ da, der Englisch spricht. Die Selfiemanie grassiert in Indien wie überall auf der Welt. Kein Problem für uns, wir sind fast für alles zu haben.
Eine Augenweide sind die hübschen indischen Frauen in ihren wunderschönen bunten Saris. Mit einem lächelnden „thank you“ dankt man uns für Komplimente. Wir geniessen das gute, scharfe Essen, das es vor allem in grösseren Orten in vielen Varianten gibt. Allerdings dürfte es für uns mehr Gemüse in seiner ursprünglichen Form sein, das es auf den Märkten reichlich gibt. Das meiste wird klein gehackt und den Saucen beigemischt. Dafür geniessen wir wann immer möglich Gurken- /Tomatensalat, garniert mit frischen Zwiebeln (reichlich), Rettichscheiben und sehr scharfen Chilischoten (die Pit tatsächlich isst! Uahhh . . .).
Wenn wir schon beim Essen sind, Indien ist keine einfache Kost für uns. Bekömmliches und schwer Verdauliches liegen oft nah beieinander auf dem Teller. In Chango z.B. schmiss ein Autogaragenarbeiter zwei kaputte PW-Frontscheiben von einer Brücke im Dorf in den Spitiriver. Da stehen uns noch jetzt die Haare zu Berge! Abfall ist ein grosses Problem im Land, wie man weiss. Als Schweizer werden wir eh nie verstehen, wie man seine nächste Umgebung, dort wo man lebt, so versauen kann. Wir wollen uns hier nicht weiter über das hässliche Thema auslassen.
Innerhalb von zwei, drei Tagen hat sich das Sutlejtal mit jedem Höhenmeter, den wir verlieren, verändert. Die Vegetation ist tropischer geworden, morgens Nebel und ab und zu ein Gewitter, daran müssen wir uns erst gewöhnen. In Jhakri mustern uns Velöler erstmals Makakken, die für Indien typischen Affen mit kurzem Schwanz und rotem Hintern, argwöhnisch. Die zweite Affenart, die schönen, schlanken indischen Languren (sie gehören mit ihrem langen Schwanz und der schwarzen Gesichtsmaske zu der Familie der Meerkatzen), begrüsst uns vor dem Hostelfenster mit der ganzen Sippe von mindestens 30(!) Individuen. Ein Weibchen schmiegt sich nah an das Fenster, zeigt keine Scheu. Wir lassen uns nicht verleiten, auf den Balkon zu treten. Zu nah sollte man unseren tierischen Verwandten nämlich nicht kommen. Das erleben wir Tage später eindrücklich beim nach Hause gehen am Abend. Ein Blick oder eine Bewegung provoziert offenbar ein auf der Strasse sitzendes Makakken-Männchen dermassen, dass es fauchend nach den Beinen von Bea schnappt (ist nichts passiert). „Du dumme Aff!!“ - nie war Schimpfen zutreffender!
Letzten Donnerstag – wir sitzen in Shimla im Bahnhof im wartenden Zug – schiesst unvermittelt ein junger Makakke unter unserem Wagen hervor, springt auf die Auslage eines Kiosks und schnappt sich von einem Kunden eine Tüte Chips, die er in der Hand hält und eben bezahlen will. Wie der Blitz ist der Dieb verschwunden. Provozierend genüsslich essend sitzt er dann auf dem Nebengeleise; die Lacher im Zug auf seiner Seite. Mit unverpackten Früchten und Esswaren unterwegs zu sein, ist nicht ratsam.
Fast zweitausend Höhenmeter gibts von Sainj bis Shimla auf 110 km, zudem viel Lastwagenverkehr (und leider Pissewetter für die nächsten Tage). Unser hilfsbereiter Hotelier organisiert ein Pick-up Taxi das uns in gut fünf Stunden nach Shimla bringt.
Strömender Regen, dicker Nebel und kühle acht Grad, so begrüsst uns der Touristenort in den Bergen auf 2200 m ü.M. Soo gruusig! Was wollen wir hier? Wir freuen uns trotzdem auf eine Woche Pause. Ausschlafen, Wäsche waschen und die Velos putzen und wenn das Wetter sonniger wird, eine Bahnfahrt mit der Shimla-Bahn (erbaut von den Engländern, seit 1903 in Betrieb) nach Kalka, das wäre der Programmvorschlag.
Ab 10.9.
Kurzfristige Routenänderung – ab ins Spitital!
Während den vier Erholtagen in Keylong reissen wir keine Bäume aus, die verdreckten Velos stehen in der Ecke, putzen hat keinen Sinn; wir geniessen gutes Essen (wieder mal ein paar Hühnerbeine, soll heissen, feines scharfes Chicken Masala) und ab und zu ein Bierchen mit Ilse und Bart aus Belgien, die mit den Velos in die andere Richtung strampeln. Radfahren kann sehr erholsam sein!
Interessant, dass viele Velotouren- und Motorradfahrer die Route über das bekannte Spitital nach Shimla wählen oder von dort kommen, also den Rohtangpass und Manali meiden. Wir lassen uns von den begeisterten Schilderungen anstecken und entscheiden uns kurzfristig für die 600 km durchs Spitital nach Shimla; das fällt uns umso leichter, als die Strecke ab Manali sehr viel Verkehr aufweist und uns geraten wird, da ein Taxi oder den Bus nach Kalka zu nehmen.
Etwas anderes kommt hinzu. Wir haben uns zu unserer eigenen Überraschung fast ein wenig zu Höhenjunkies gemausert, die sich von hohen Pässen nicht abschrecken lassen. Wie unbedeutend der Mensch hier als kleines Würstchen ist, wo er sich ohne Wenn und Aber mit der übermächtigen Natur arrangieren muss. Wir können verstehen, dass die Religion für die Einheimischen bei diesen harten Lebensumständen eine ganz zentrale Rolle einnimmt.
Den Himalaya mit seinen weiten, einsamen Tälern, den stiebenden Wasserfällen, zerklüfteten Graten, grandiosen Schneeriesen und liebenswürdigen, gastfreundlichen Menschen wollen wir noch nicht loslassen; es ist einfach viel zu schön hier!
Den Abzweiger vom National Highway 3 ins Chandratal könnte man glatt verpassen, wäre er nicht angeschrieben. Schluss mit Asphalt, jetzt geht es auf staubiger, steiniger Piste weiter. Stehend reiten wir im Schritttempo in Schlaufen zum Chandra River ins Tal, die Arme werden am Abend mehr schmerzen als das Hinterteil. In wenigen Minuten wird der Kopf frei, die stinkenden, lärmenden LKWs und hupenden Pkws sind weggewischt. Wir freuen uns sehr auf das Abenteuer Spitital.
Die „Strasse“ wurde mit schweren Maschinen aus dem Hang gebaggert und nur grob planiert. Verbauungen fehlen, Brücken sind selten, oft müssen wir uns den Weg durch Geröll und Wasser suchen, wenn aus einem Seitental ein reissender Bach Berge von Geschiebe über der Strasse aufgetürmt hat. Auf den nächsten 90 km bleibt das so.
Ab und zu ein Auto, zwei, drei Lastwagen pro Tag und einige hartgesottene Motorradfahrer, ansonsten lässt uns der Verkehr in Ruhe. Velofahrer mit Gepäck? Wir treffen nur Ernst aus Holland, einen alten Bekannten, zum vierten Mal.
Gerade besondere Umstände machen das Velölen für uns zum einmaligen Erlebnis. Wie hier im indischen Himalaya, inmitten grossartiger unberührter Natur, ist das nur an wenigen Orten weltweit möglich. Dank Wetterglück wird das Bergerlebnis ein ganz besonderes. Unser grösster Reichtum ist, dass wir uns Zeit nehmen dürfen. Wie unvergleichlich schneller sind die Mitreisenden unterwegs, die die tolle Tour in wenige Tage (mit der Royal Enfield und GoPro am Helm) oder Ferienwochen (mit dem Velo) pressen müssen/wollen. Nichts für uns, diese Hetzerei.
Die Strasse über den Kunzum La, 4590 m, ins Spitital ist weniger steinig als sie die Tage vorher war und recht gut zu pedalen. Also ein Glückstag für uns, denn wir fahren meist im 13. Gang, d.h. im zweitkleinsten. Allerdings wird auch viel geschoben; kalt pfeift der Wind um die Ohren. Die 11 km bis zum Pass ziehen sich zäh wie Kaugummi. Wie schön könnte die Abfahrt ins Spitital sein, wäre der Weg einigermassen eben, so aber holpern wir wie über rohe Eier ins Tal, immer auf der Hut, dem Abgrund nicht zu nahe zu kommen und vor allem nicht auf die Nase zu fallen. Wer das Besondere sucht, muss sich nicht beklagen.
Wir folgen dem Tipp anderer Radfahrer und nehmen die schmale asphaltierte Nebenstrasse kurz nach Hanse bis Kaza, bleiben so auf der linken Seite des Spiti-Rivers. Kein Verkehr mehr und ein Leckerbissen der Sonderklasse, wie sich bald zeigt! Der Blick auf den Fluss tief unten, der sich alle Rechte nimmt und breit durch das Tal mäandert, ist der Hammer. Wind und Regen haben aus Molasse und Sandablagerungen spitze Kegel geformt, die uns wie Märchenfiguren links und rechts der Strasse grüssen. Wir nehmen den Umweg gerne in Kauf und dass es nochmals auf 4220 m hoch geht ist kaum mehr der Rede wert.
In den engen Tälern rund um Chichim und Kibber ist Erntezeit. Weizen, Kohl, Bohnen und anderes Gemüse wächst auf kleinen Terrassen-Feldern, die sich wie bunte Flickenteppiche zwischen den
Bergflanken drängen. Jeder einigermassen ebene Quadratmeter wird ausgenutzt – und das auf
4000 m ü.M.!
Einmal mehr haben wir ein glückliches Händchen gehabt und dafür ein Geschenk bekommen, das alle Mühen vergessen lässt. Es ist einfach so genial schön hier!
Willkommen im indischen Papier-Bürokratiedschungel!
Kaza ist das einzig grössere Dorf im Spitivalley und zugleich Hauptort. Was aber nicht automatisch heisst, dass es hier (endlich) mal wieder Internet gibt, das auch funktioniert. Für fast alles braucht es Strom, und der macht sich rar (wie übrigens in jedem Dorf hier). Tagsüber kommt mit Glück Saft aus der Dose, meistens aber erst abends. Wer es sich leisten kann, stellt einen Benzingenerator neben den Ladeneingang.
Kein Strom, kein Benzin an den Zapfsäulen. Kein Bankomat, der Kohle ausspuckt; warmes Bier, kein Drucker und kein Fotokopierer, der seinen Dienst tut und eben auch kein Internet (das nebenbei gesagt, auch mit Strom nicht funktioniert).
Apropos Drucker. Für das Spitivalley braucht es ein sogenanntes Permit, also eine Reisebewilligung, die an Strassencheckpoints kontrolliert und abgestempelt wird.
Die bekommt man nur in Kaza. Endlich finden wir das Büro, zuerst müssen aber Fotokopien von Pass und Visa her, zusätzlich sind drei Formulare auszufüllen. Die Unterlagen gibts beim nahen Kopiershop. Der stinkende Generator rattert gleich im Eingang und vertreibt mit seinen beissenden Abgasschwaden so manche empfindliche Touristennase. Diesen Dreck der Tourbusse dürfen wir jeden Tag einatmen!
Zurück im Büro heisst es erst mal alles ausfüllen und warten. Blick in die Kamera, aber die funktioniert gerade nicht, ebenso streikt der Drucker (Pit muss morgen wieder kommen und zwei Fotos bringen). Der Beamte tut uns schon fast leid, er tippt alles nochmals mit zwei Fingern von unseren Formularen in den Laptop ein. Später wird das Foto in einen 10 cm dicken Schunken eingeklebt und fein säuberlich mit Namen versehen.
Die österreichische Touristin neben uns fragt den Beamten, ob es Probleme geben würde, weil bei ihr im Permit als Herkunftsland „Australia“ anstatt „Austria“ stehe. No problem, meint der Chef hinter dem Schalter. Ist ja fast dasselbe Land. Wir Schweizer gehen oft auch als Schweden durch.
Hat da irgend jemand mal gesagt, die Inder seien stark in allem, was Computer angeht? Willkommen im indischen Papier-Bürokratiedschungel!
Ab 26.8.
Die gefahrene Strecke ist aktualisiert und unter der Rubrik
"Bereiste Länder und gefahrene Routen" zu finden.
Bis die Puste ausgeht –
auf dem Manali-Leh-Highway durch den indischen Himalaya
Zeit aufzubrechen. Zehn Tage Akklimatisation auf 3500 m ü.M. sollten reichen. Obwohl, richtig durchatmen fällt nach wie vor schwer; wir kommen uns manchmal unglaublich alt vor.
Erst mal anstehen bei der Tankstelle ausgangs Leh um den Benzinvorrat für den Kocher aufzufüllen. Selber Essen zubereiten sollte nicht nötig sein, aber man weiss ja nie. Jedenfalls ist Notvorrat mit an Bord.
Dass auf der 470 Kilometer langen Tour nach Manali Pässe über 5000 m ü.M. auf uns warten (der höchste gleich am Anfang), lässt uns ahnen, dass Leh noch ruhiges Velofahrer-Nasenwasser war.
Der Verkehr hält sich in Grenzen, wenn da nicht die vielen grünen Lastwagen wären, die Material und Mannschaften in der Region verschieben und die schmale Strasse zeitweise verstopfen. Täglich sind es mehr als hundert grosse Brummer die uns einrussen und in Staubwolken hüllen. Wir husten und niesen was das Zeug hält. Unser Pech, dass Indien
ausgerechnet jetzt (wieder einmal) seine Muskeln gegenüber dem westlichen Nachbarn Pakistan spielen lassen muss, was uns zeitweise das Pedalen arg vermiest.
Wo ist bloss unsere Kondition geblieben? Bei den kleinsten Steigungen keuchen wir wie Dampflocks – das kann ja heiter werden.
In Upshi finden wir ein einfaches Homestay. Zimmerpreis ca. zehn Franken. Zum Tagesabschluss gibts einen Ginger-Lemon-Honey-Tea, sehr fein und in der Höhe bekömmlich . . . aber wir geben zu, dass ein kühles Bierli doch mehr unserem Empfinden von Feierabend entsprechen würde. Was solls, die nächsten zehn Tage bleiben wir diesbezüglich völlig auf dem Trockenen.
Dafür ist das Wetter eine Wucht und der Blick auf die schroffen Bergflanken und weissen Gipfel der 6000er rundum schlicht der Hammer! Die Strasse windet sich in sanften Schlaufen, die mit dem Velo gut zu fahren sind, dem ersten Pass, dem Taglang La, zu. Nur an wenigen Stellen gibt es Schotterpisten-Abschnitte, dafür von der ganz üblen, staubigen Sorte. Bautrupps räumen Geröll und mächtige Felsblöcke aus dem Weg, ziehen Stützmauern hoch, nahezu alles in Handarbeit. Arbeitskräfte sind billig, Maschinen teuer. Die brüchigen Bergflanken machen die Bemühungen zur Sisyphusarbeit. Die staubige Schinderei ist nie abgeschlossen. Vermutlich schuften die jungen Typen (und Frauen!) für einen Hungerlohn.
Wie weit noch zur Passhöhe? Drei Tage Schwerarbeit und immer noch kein Ziel in Sicht. Schier endlos windet sich die Strasse über die Bergflanken um irgendwo in der Ferne zwischen zwei Berggipfeln zu verschwinden. Erster Blick auf den Taglang La steht auf der der gelben Steintafel. Phuu, so weit noch?! Wir haben genügend Zeit, ist ja erst kurz nach Mittag (wie wir uns täuschen . . .).
Die Höhe macht uns zu schaffen. Nicht Kopfschmerzen oder Übelkeit plagen uns, vielmehr ist es die Kurzatmigkeit, die viele Verschnaufpausen fordert. Endlich, nach einem 11 Stunden langen Velotag (im Sattel effektiv nur knapp 7 Std.) schieben wir unsere schweren Göppel kälteschlotternd die letzten paar hundert Meter zur Passhöhe. Nein, so auf den Felgen waren wir kaum je vorher. Haben wir uns zu viel vorgenommen, unsere Kräfte überschätzt? Rasch wird es dunkel, kalter Wind fegt über den Taglang La. Welch grossartige Leistung von Bea, die mit letzten Kräften und ohne zu klagen ihr Velo vorwärts wuchtet. Mir schlottern die Knie; ich habe mit den Nerven zu kämpfen. Meine liebe Frau tut mir so leid – haben wir uns zufiel zugemutet?
Halb acht, endlich hat die Schinderei für heute ein Ende. 23 km sind es bis Debring. Noch ins Tal fahren? Kommt nicht in Frage, zu gefährlich, die Strasse zu schlecht, wir ausgelaugt. Um das Zelt bei dem starken Wind aufzubauen, fehlt uns der Mumm. Bea zeigt zum kleinen Krishna-Tempel. Das ist die Lösung. Windgeschützt und ein Dach über dem Kopf, was wollen wir mehr. Kaum eine halbe Stunde später liegen wir in unseren warmen Schlafsäcken im Tempel. Das Nachtessen fällt aus. Nichts geht mehr. Auf 5360 m ü.M. zu übernachten ist ein Blödsinn, den man nicht machen sollte. Heute sind wir mit unserer Zeitrechnung gewaltig auf die Nase gefallen. Wir schlafen trotzdem wie Murmeltiere. Krishna hat uns den Einzug in seinen Tempel offenbar nicht übel genommen.
Dörfer im eigentlichen Sinne gibt es hier nicht mehr, lediglich einige Zeltsiedlungen, die die Einheimischen während der kurzen Sommersaison von etwa vier Monaten aufbauen, um ihr bescheidenes Einkommen aufzubessern. Einfachster Komfort, Strom, wenn überhaupt vorhanden, nur stundenweise vom Dieselgenerator oder solar, kein Telefon, Internet ist hier in Witz. Wir geniessen die Gastfreundschaft mit wenigen anderen Touristen. In Debring versuchen wir der aufgestellten Köchin beizubringen, wie man ein Spiegelei brät. Unter viel Gelächter gelingt das Kunststück. Immer nur Omelett zum Frühstück – das hängt irgendwann zum Halse heraus.
Viele Familien leben mit ihren Schaf-, Ziegen- und Yackherden als Nomaden in sehr bescheidenen Verhältnissen, trotzen den kalten langen Wintern. In Whiskey Nala (die Siedlung heisst wirklich so!) kommen wir ausnahmsweise in den Genuss einer hocheffizienten Zelt-Heizung. Der stolze Wirt befeuert den Kanonenofen mit trockenem Schafsdung bis das Ofenrohr glüht. Unglaublich, welch eine Hitze der Ofen abgibt (und wie wertvoll Schei . . . sein kann)!
Pang, das kleine Nest im engen Talkessel, liegt hinter uns. Auch der Geburtstag von Bea, der diesmal ohne gute Wünsche von Daheim ganz bescheiden „gefeiert“ wurde. Die enge Schlucht mit ihren bizarren Felsformationen ist atemberaubend schön. Überhaupt zeigen sich die Landschaften jeden Tag anders, das Pedalen wird nie langweilig. Die Kargheit der weiten unberührten Bergtäler hat etwas Faszinierendes, das uns immer wieder begeistert und staunen lässt. Heute nehmen wir den Lachung La, 5090 m, unter die Räder. Durch die steile Felswand vor uns führt ein ausgesprengtes Band das sich links durch grosse Felsblöcke und steile Geröllhalden fortsetzt. Wenig Vertrauen erweckend. Sieht nach einer ehemaligen Strasse aus. Unvermittelt tauchen zwei Lastwagen in der Felswand auf! Das IST unsere Strasse! Einmal mehr staunen wir über die Fahrkünste der LKW-Fahrer und den Mut der Strassenbauer. Ist die Strasse allzu sehr ausgesetzt – manchmal fällt der Berghang einige hundert Meter steil ab - halten wir uns beim Kreuzen mit Lastwagen und Autos sicherheitshalber an die Bergseite.
Rücksicht auf der Strasse darf man in Indien übrigens nicht erwarten. Der Stärkere hupt den Schwächeren gnadenlos aus dem Weg. Erst aufs Horn, dann denken. Die Hupe ist nach dem Lenkrad und dem Gaspedal das wichtigste Instrument der indischen Autofahrer. Das führt bisweilen zu Situationen, bei denen der Europäer fest auf die Zähne beissen muss, um nicht auszuflippen. Müssen wir z.B. mit dem Velo eine kurze verschüttete Engstelle mühsam schiebend passieren, vielleicht noch durch Wasser, hat der Inder kein Verständnis, dreissig Sekunden warten zu müssen. Hooorn! Hooorn! Hooorn!
49 km sind es bis nach Sarchu. Unsere Tagesetappen sind übrigens im Durchschnitt kaum länger als 35 Kilometer. Schlechte und unasphaltierte Strassenabschnitte, Baustellen, Wasser und Lastwagenkonvois, die zum Warten zwingen, machen das Vorwärtskommen mühsam. Und natürlich die vielen Pausen, ohne die es für uns nicht geht. Heute morgen geraten wir buchstäblich zwischen die Fronten. Das Kreuzen der Laster wird zur Zentimeterarbeit, immer den Abgrund im Blick, versuchen wir uns so dünn wie möglich zu machen. Ungemütlich!
Der Baralacha La, zweitletzter Pass vor Manali, hält auf der Passhöhe eine besondere Überraschung bereit: hier blühen neben anderen schönen Blumen viele Edelweiss! Kleinod, das uns Velölern vorbehalten bleibt. Busse und Motorradfahrer brausen achtlos daran vorbei. Einmal mehr wissen wir, warum wir uns die ganzen Mühen und Entbehrungen antun. Eben genau wegen solchen Momenten in grandioser Natur, die uns niemand mehr nehmen kann.
Vergessen ist ein Vorfall gestern, der mich unglaublich staubig gemacht hat. Wir sahen erstmals Murmeltiere dank einem indischen Motorradfahrer. Er warf mit Steinen nach den Tieren und das Wegfahren ging nicht ohne langanhaltenden Hornton. Ich habe ihm eine verbale Ladung um die Ohren gehauen, die sich gewaschen hat. So ein oberdummes Arschloch!
Keylong. Heute gibts nur eine kurze Tour. Nach elf Tagen ohne Pause ist die Luft buchstäblich draussen. Wir freuen uns auf velofreie Tage, eine heisse Dusche (nach etlichen Tagen ohne . . .), ein Bett und gutes Essen. Wir stehen am Morgen abfahrbereit in Jispa, da winkt und ruft uns schon von weitem eine junge Velofahrerin auf Berndeutsch zu „Hallo zusammen, endlich treffen wir euch!“. Hä? Seit Tagen haben Sarah und Andy von Einheimischen gehört, dass da zwei Schweizer vor ihnen fahren. Wir geniessen mit Sarah, Andy und den Deutschen Klaus und Martin gemütliche Stunden beim Velosophieren in Keylong. Auch das muss sein!
Indien
Wenn Velofahrer fliegen
Delhi, Indira Gandhi International Airport. Missmutig und ratlos stehen wir mit all unserem Krempel bei den Taxiständen herum. Bis nach Delhi hat alles prima geklappt, die Immigration ging unbürokratisch schnell, das ganze Gepäck ist angekommen. Auf keiner Flugreise vorher kamen die Kartonschachteln mit den Velos in so einem guten Zustand an, hilfsbereite Hände überall. Und nun das. Entgegen der Zusicherung von Finnair, dass das Gepäck bis Leh im Norden Indiens durchgereicht wird, müssen wir hier alles auschecken, ins Hotel nahe beim Flughafen transportieren und morgen spätestens um 05.30 Uhr wieder alles einchecken. Genau das wollten wir bei der Buchung vermeiden! Bereits heute bei der indischen Fluggesellschaft Vistara einchecken? Fehlanzeige, vor morgen früh geht gar nichts. Vorschrift ist Vorschrift.
Was nun folgt, macht richtig Freude – nicht zum ersten Mal: Wie findet man ein Taxi, das die beiden grossen Veloschachteln, das umfangreiche Gepäck und irgendwo dazwischen gequetscht uns zwei transportieren kann? Ein kleiner Inder mit grossem Kombi erbarmt sich. Die Schachteln mit den Velos sind etwas zu lang, „no problem“, die Heckklappe bleibt offen. Was solls, aber dass er das Gepäck aufs Dach wuchtet und treuherzig meint, eine Sicherung sei nicht nötig, er fahre sehr vorsichtig, gefällt uns überhaupt nicht. Der Schweiss fliesst in Strömen, nicht nur wegen der unbarmherzigen Hitze. Tempi passati. Es klappt, nichts fliegt.
Nach viel Palaver, einigem hin und her – der Taxifahrer hat es nicht eilig, dafür sitzen wir auf Kohlen - und dem obligaten „no problem“ checken wir zügig ein (die Velos reisen gratis!), geniessen den tollen Flug über den verschneiten Himalaya und landen eine gute Stunde später im kleinen Städchen Leh. Die Bergflanken zogen nach einer steilen Linkskurve beim Landeanflug bedrohlich nah am Flieger vorbei (wohl nur für uns); yeah, nach fast zwei Tagen ist die Flugreise (endlich) zu Ende! Einfach grandios, hier sein zu dürfen, aber viel, viel grösser ist die Vorfreude auf das Velofahren durch den bis zum Himmel reichenden Himalaya.
Leh liegt im Bundesstaat Jammu und Kashmir. Der indische Bundesstaat ist Teil der zwischen der Volksrepublik China, Indien und Pakistanumstrittenen Region Kaschmir. Der von Indien kontrollierte Teil hat ca. 13 Millionen Einwohner.
Die indische Verfassung räumte Jammu und Kashmir unter den indischen Bundesstaaten eine Sonderstellung mit weitreichender innerer Autonomie ein. Am 5. August 2019 wurde dieser Passus aus der Verfassung gestrichen. Gleichzeitig erklärte die indische Regierung ihre Absicht, den Bundesstaat auflösen und in zwei Unionsterritorien aufteilen zu wollen.
Ein völlig anderes Indien erwartet uns. Nach dem vermüllten, düsteren, nach Armut stinkenden Stadtteil nahe des Flughafens Delhi mit seinen vielfach offenen Abwassergräben, dem lauten Verkehrschaos mit ohrenbetäubendem Gehupe – nach Europa wie ein Schlag in die Magengrube - sind wir hier in Ladakh in einer anderen Welt gelandet.
Mit schönen Schnitzereien verzierte Häuser, saubere Strassen, farbige Märkte, kleine Gassen, viele Restaurants mit leckerem Essen, kaum Abfall, freundliche Bewohner und ein erträglicher Touristenstrom. Dass uns anfangs Kopfschmerzen plagen – Leh liegt auf 3500 m ü.M. - ist dem raschen Anstieg ins Gebirge geschuldet. Jetzt heisst es erst mal viel trinken (Alkohol ist gestrichen!) und die nächsten Tage abhängen. Akklimatisieren braucht Zeit, kein Problem bei der Bergkulisse . . . und dem, was hier in Ladakh auf den Tisch kommt!
Leh, ca. 30'000 Einwohner, ist Verwaltungssitz des gleichnamigen Distrikts und Hauptort der Region Ladakh und gehört zu den höchstgelegenen ständig bewohnten Städten der Erde. Bei der Flutkatastrophe im Sommer 2010 wurden weite Teile der Stadt verwüstet. Es herrscht ein raues Wüstenklima. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt nur etwa 103 mm. Die Jahresdurchschnitts-temperatur liegt bei 5,3°C. Im Winter wird es bis −20°C, im Sommer bis 24°C. Die Sommer sind kurz und die Winter lang und kalt.
Von unserem kleinen Hotel haben wir einen grandiosen Blick auf die verschneiten 6000er-Gipfel rundum. Nach zwei Tagen Pissewetter mit miesen 8°C tagsüber und kalten Nächten nahe am Gefrierpunkt (Geheiztes Zimmer? Vergiss es!) lassen wir uns die Sonne gefallen, ja es ist geradezu heiss. Leh gefällt, von Tag zu Tag fühlen wir uns besser. Pit entwickelt geradezu ungeahnte Kräfte. Beim Montieren der Lenkerstange – der Lenker muss für den Flugtransport demontiert werden – zieht er die Schrauben zu fest an, die Aluplatte bricht. Ersatz zu finden, kann man hier vergessen. Im kleinen Hier-findest-du-alles-Laden in der Altstadt kaufen wir zwei Metallbrieden und reparieren notdürftig. Mit der nötigen Vorsicht sollte das Gebastel bis Nepal halten, dort erwarten wir mit Glück Ersatz. Fluchen und sich nerven bringt wenig, sowieso, wenn man den Mist selber verbockt hat. Trotzdem, Schei . . . !!
Einmal auf dem Höchsten stehen - Ausflug zum Khardung La
Man kann Gebirgspässe erwandern, mit dem Velo schweisstreibend erklimmen oder ganz bequem und unspektakulär motorisiert erobern. Für den auf ca. 5360 m ü.M. liegenden Khardung La, 39 km nördlich von Leh, buchen wir einen Touri-Jeep-Trip zu zweit, eigentlich nicht nach unserem Geschmack, aber irgendwie vernünftig, wie wir meinen. Vielleicht ist es auch Respekt vor den Strapazen, die uns auf dem Manali-Leh-Highway erwarten und ein Test, wie gut wir mit so grossen Höhen klar kommen. Was auch immer, die Tour hat unheimlich Spass gemacht und die Vorfreude auf das Kommende noch erhöht!
Der Khardung La gehört zu den höchsten befahrbaren Gebirgspässen der Erde und ist darum sowohl bei Touristen als auch bei Einheimischen als Tagesausflugsziel sehr beliebt. Auf den letzten Kilometern ist die meist einspurige Strasse nicht asphaltiert und in einem sehr schlechten Zustand. Felsbrocken und tiefe Löcher fordern die Fahrer und mehrmals ziehen wir beim Kreuzen mit LKWs instinktiv den Kopf ein – näher gehts nimmer. Heute begegnen uns zudem Dutzende verwegene Royal Enfield-Reiter, eingehüllt in Staubwolken. Auf Töfffreeks muss der hohe Pass eine besondere Anziehung ausüben, wie es scheint.
Aus strategischen Gründen – die pakistanische Grenze ist nur 180 Autokilometer entfernt - versucht die indische Armee den Passübergang ganzjährig offen zu halten. Die Strasse ist oft auch im Sommer durch Schneefälle und wegen der schlechten Bereifung der Fahrzeuge schwer passierbar.
Übrigens wird die Passhöhe offiziell mit 5602 m angegeben, was gemäss unabhängigen Messungen zufolge nicht stimmt. Das kümmert die Inder wenig, wer lässt sich schon gerne den welthöchsten befahrbaren Gebirgspass wegnehmen?!