Ab 6. September 2021
Biarritz, wo die Schönen und Reichen plauschen
Das Pedalen durch die herrlichen Weinberge südlich von Bordeaux und die anschliessenden weiten Pinienwälder der Küste zu wird zur einsamen Reise. Dörfer machen sich rar, Velofahrer lassen sich an einer Hand abzählen. Wir geniessen das ruhige Bummelfahren, besonders jetzt, nachdem die grosse Stadt Bordeaux hinter uns liegt. Knifflig wird die Zeltplatz- und Futtersuche. Was täten wir ohne Internet! Riesige Zeltplätze und ebenso grosse Wellen gibts dafür an der Atlantikküste, dem Mekka vieler Surfer (Wellenreiter) aus ganz Europa. An einem Kiosk entdecken wir allein vier deutsche Tageszeitungen. Was sagt uns das? Richtig, das Französische muss eng mit dem Bayerischen verwandt sein. „Bong Schuäh“ hört man hier allenthalben von Radlern, die die Küste abfahren und uns wie unbekannte Tiere mustern.
Biarritz, im 17. Jahrhundert Walfängerdorf, heute modänes Seebad mit mehr als 150jähriger Geschichte – Kaiser Napoleon III. und seine Gattin Eugénie sollen hier schon um 1850 die bleichen Füsse in die Sonne gehalten haben – ist nach wie vor bei Schönen und Reichen beliebt (und denen, die sich dafür halten). Als Velöler sind wir also hier genau richtig. Jetzt, im Spätsommer, ist immer noch viel los und die teuren Hotels sind gut besetzt. Die Oldtimer-Show heute Samstag fällt buchstäblich ins Wasser, es schüttet für einige Minuten wie aus Kübeln. Ein Drama für so manchen Cabriobesitzer.
Viele Dutzend geübte und weniger geübte Surfer tummeln sich in den unaufhaltsam anrauschenden Wellen, beobachtet von hunderten Touristen. Der Wassersport sieht langweiligt aus, ist es vermutlich auch. Um 20 Sekunden auf dem Brett zu stehen liegen Angefressene oft länger als fünf Minuten auf dem Board im Wasser und hoffen auf die nächste Welle. Cool sieht dann auf jeden Fall aus, mit halb heruntergezogenem Neoprenanzug und Brett unter dem Arm barfuss heimwärts zu schlendern. Nein, wir haben keine Ahnung vom Surfen. Sorry!
Es bleiben noch 30 Kilometer bis zur spanischen Grenze.
Ab 13. August 2021
Genuss-Velofahren in Frankreich
Mit dem Velo mitten in der Touristen-Hochsaison unterwegs sein, dann noch an der Küste zu einem touristischen Hotspot, das ist definitiv kein guter Plan. Aber manchmal wird eine spontane Laune zur fixen Idee. Geht uns so mit Roscoff, ganz im Norden der Bretagne, wo die Fähre nach Plymouth in Grossbritannien Frankreich verlässt. Da wollen, nein, da müssen wir hin! Ausgebucht, nous n'avons plus de place, hören und lesen wir dieser Tage öfter als uns lieb ist. Verbissen bleiben wir dran, bis es mit einer Buchung klappt. Das Zimmer mit Meerblick gehört uns! Allerdings erst in drei Tagen.
Unmögliches möglich machen, z.B. ein Hotelzimmer buchen
In zehn Tagen sind die Sommerferien für die meisten Franzosen vorbei. Und für uns wird es hoffentlich leichter (und günstiger) Unterkünfte zu finden. Sind 30, 40 Kilometer Umweg zu einem Hotel oder Zeltplatz für Autofahrer ein Klacks, pedalen wir unter Umständen Stunden. Vorerst schinden wir Zeit und trödeln von Morlaix über Land ins westlich gelegene Landivisiau. Eine graue, wenig einladende Stadt ohne französisches Flair. Im einzigen offenen Hotel beim Autobahnkreuz (Restaurant geschlossen) ergattern wir ein Zimmer für zwei Nächte. „Braucht ihr etwas, dann kommt zu mir“ meint die umtriebige Receptionistin mit breitem Lachen. Wir dürfen unsere Einkäufe vom nahen Supermarkt in die Hotel-Mikrowelle schieben. Unkomplizierte französische Gastfreundschaft, einmal mehr.
Dafür öffnet uns das Hotelzimmer in Roscoff einen sagenhaften Blick aufs Meer. Ja, wir könnten einen „Hechtler“ direkt aus dem Fenster nehmen, wäre das Wasser genügend tief. Der Unterschied von Ebbe und Flut beträgt hier beachtliche 4,5 Meter. Seit Millionen Jahren wiederholt sich das Schauspiel ungefähr alle 25 Stunden zweimal. Bei Niedrigwasser liegen stolze Jachten zusammen mit dickbäuchigen Fischerbooten wie gestrandete Wale im unappetitlich stinkenden Schlick des Hafens, bevor die Flut sie wieder schwimmen lässt.
Vor allem Franzosen kurbeln dieses Jahr den Tourismus an. Eine endlose Kolonne von Wohnmobilen und Autos quetscht sich durch die engen Altstadtgassen von Roscoff. Erstaunlich, dass hier, wie meistens in Frankreich, die Parkplätze gebührenfrei sind. Ohne Auto hat man in der Grande Nation sowieso schlechte Karten. Ganz zeitgemäss gibt man sich auch in Frankreich gerne grün, schmeisst den Abfall aber meist unsortiert in die gleiche Tonne. Altglas bekommt einen Extracontainer, wenn auch nicht farblich getrennt.
Bei den Waschmaschinen beim Supermarkt am Stadtrand lernen wir zwischen 40°-Trommel und tumblern Monique kennen, die uns spontan zum Kaffeetrinken nach Hause einlädt. Sie hat vor zwei Jahren ein 450 Jahre altes Haus gekauft und liebevoll renoviert. Wir geniessen spontane Plauderstunden wie diese besonders, dürfen wir doch unsere Nasen in Dinge stecken, die uns sonst nichts angehen. Mal ein anderes Gesicht gegenüber, das lassen wir uns gerne gefallen.
Reizvolles Velofahren über Land
Wer meint, Velofahren an der Küste heisst das Meer sehen, irrt. Zu oft halten Strassen und Wege einen respektvollen Abstand zum Wasser. Wo fahrbar, drängeln Wohnmobile und Autos dicht an dicht zu den Aussichtspunkten, wer einen Sonnenplatz erobert, gibt ihn den ganzen Tag nicht mehr her.
Nichts für uns. Wir erleben einmal mehr, wie schön das Pedalen über Land sein kann, allen Empfehlungen zum Trotz. Bei einsamen Entdeckungstouren auf kleinen Strassen und Radwegen, abseits beliebter Autorouten, kommen wir durch typisch bretonische Dörfer, deren Namen man gleich wieder vergisst. Eine Bar, mit Glück ein kleiner Laden, zu grosse Kirchen und noch viel grössere Parkplätze, Bauernhöfe und Felder, soweit das Auge reicht. Touristisch geben die Nester nichts her. Landwirtschaft dominiert. Genau diese nüchterne Durchschnittlichkeit vermittelt Ursprünglichkeit, die uns gefällt. Veloreisende sind so selten wie Eisbären am Südpol.
Nach einer kurzweiligen Fahrt auf dem Voie Verte 7 von Morlaix nach Carhaix-Plouguer interessiert uns nur der Supermarkt im Ort und der Zeltplatz ausserhalb. Auf dem Campingplatz werden wir tatsächlich mit Querflötenmusik empfangen! Auf dem Nachbarplatz übt der Sohn einer Familie aus den USA, die seit vielen Jahren in Frankreich lebt, fleissig für die Konservatorium-Aufnahmeprüfung. Lange nicht mehr genossene Töne. Merci pour ce concert ! Morgen steht der „Canal de Nantes à Brest“ auf unserem Programm.
Geschichtliches zum „Canal Nantes à Brest“:
1842 wurde der Canal eröffnet. Er war zeitweise für die Binnenschifffahrt zwischen Nantes in der Region Pays de la Loire und Brest in der Region Bretagne bedeutsam. Bei diesem Kanal handelt es sich um einen Wasserscheidenkanal, der insgesamt drei Scheitelhöhen überwindet:
Bout-de-Bois (20 m), Hilvern (129 m), Glomel (184 m). Der Kanal weist eine Länge von 396 Kilometer auf. Um den Höhenunterschied von insgesamt 555 Metern zu bewältigen wurden 236 Schleusen angelegt. Die zunehmende Blockierung der bretonischen Küstenschifffahrt durch die britische Flotte gefährdete den Handel in der Küstenregion. Von 1822 bis 1832 schufteten 400 bis 600 Gefangene (Oppositionelle, Kriegsgefangene, Rebellen, Kriminelle) von ausserhalb der Bretagne am Kanal, um von Hand den bis zu 23 m tiefen Einschnitt auszuheben.
Die Gefangenen waren unter schlimmsten Bedingungen untergebracht. Malaria und harte Arbeitsbedingungen forderten zahlreiche Opfer. 1830, im Zusammenhang mit der Julirevolution, fand ein Massenausbruch von 570 Gefangenen statt. Die Mehrzahl von ihnen wurden jedoch wieder eingefangen. Vorerst waren nur einzelne Abschnitte in Betrieb. 1858 soll Napoleon III. den Kanal dann endgültig eröffnet haben. (aus Wikipedia)
Die holprige Strasse führt in steilen Kurven in eine dicht bewaldete Senke zum Kanal. Jetzt, am Morgen, die ersten Sonnenstrahlen spiegeln die mächtigen Eichen und Platanen im klaren Wasser, ist die Stille hier unten beinahe vollkommen. Ein Specht hämmert, zweimal zeigen Eisvögel ihr prächtig blau-oranges Gefieder. Wir geniessen die Ruhe, freuen uns auf gemütliche Velokilometer und den zweiten Morgenkaffee irgendwann später. Für unsere 290 km sind vier bis fünf Tage Velofahren eingeplant. Wir sind froh, dass die hier am Oberlauf ins Wasser gestürzten Bäume im Bereich des Radwegs weggeräumt wurden. Einige Fischer baden Würmer, ansonsten ist niemand unterwegs, schon gar keine Radfahrer. Schöner kann ein Velotag kaum beginnen.
Die Route ist wirklich eine Wucht! Einmal mehr bewundern wir die enorme Arbeitsleistung beim Bau des Kanals mit seinen vielen Schleusen (aktuell noch 218). Die Radwege sind bestens ausgeschildert und tadellos unterhalten. Und endlich wagt der Sommer einen zaghaften Anlauf, jetzt, gegen Ende August. 23 Grad tagsüber, das ist doch schon was. Nachts bleibt es kühl. Das leidige Kondenswasser im Zelt nervt nach wie vor.
Nantes jazzt!
Gleich um die Ecke bei unserem Appartement wird am Wochenende in einem kleinen Hinterhof Jazz vom Besten gegeben. Jeden Abend die gleichen Gesichter. Wir sind wohl einmal mehr die einzigen Fremden. Nantes, 305'000 Einwohner, einst Sitz der Herzöge der Bretagne, ist nach unserem Geschmack und ideal für drei Tage Pause. Leider kann die fast 1000jährige Kathedrale nicht besichtigt werden. Noch sind die Renovierungsarbeiten nach dem Brand vom Juli 2020 nicht abgeschlossen (die grosse Orgel und Buntglasfenster wurden durch Brandstiftung zerstört).
Einmal mehr fällt uns auf, wie unaufgeregt, ja ruhig der Strassenverkehr in grossen Städten Frankreichs auf uns wirkt. Was in vielen Städten der Welt zu bösen Worten und Rempeleien führt, nämlich dass sich Zweiradfahrer und Fussgänger auf Trottoirs und in verkersfreien Innenstädten in die Quere kommen, ist hier höchst selten zu erleben. Offenbar haben es die Franzosen verstanden, Fussgänger und Velofahrer zu kreuzen. Entstanden ist ein rücksichtsvolles, höfliches Individuum, das mal den Weg frei macht, das das Tempo anpasst oder vom Rad steigt und dankt, wenn ihm der Vortritt gelassen wird. Velofahrverbote gibt es kaum. Fahrräder dürfen häufig Einbahnstrassen in der falschen Richtung befahren. Man nimmt gegenseitig Rücksicht, ohne sich in die Wolle zu geraten. Das gleiche erleben wir mit Hundehaltern und ihren besten Freunden. Frankreich ist einfach anders. „Le Savoir-vivre“, wir geniessen sie sehr, die französische Lebensart. Wie das Velofahren wohl in Spanien wird, unserem nächsten Reiseland? Kurz nach Nantes wechseln wir ins Departement Vendée.
Dass der Radweg ab Nantes durch weite Rebberge führt, ist ganz nach unserem Geschmack. Besonders der spritzige Weisse und auch mal ein Muscadet aus der Loireregion haben es uns angetan. Die Weinlese steht kurz bevor und wird grösstenteils maschinell bewältigt. Andere Radfahrer treffen wir selten.
Unterwegs in der Sumpfregion Marais Poitevin
Die letzten Tage seit Lucon waren auf neue Art speziell. Das Land war in gallo-römischer Zeit noch vom Meer überflutet. Nachdem sich das Wasser nach und nach zurückzog, wurde das sumpfige Land durch ein weites Kanalnetz trocken gelegt. Wir pedalen entlang des Canal de Lucon auf einfachen Fahrspuren und schrecken viele Wasservögel und Nutrias auf, die hier nicht an Menschen gewöhnt sind. Riesige Sonnenblumenfelder stehen Spalier, dazwischen grasen Kühe. Zwei Biker und ein Jogger hecheln an uns vorbei, sonst sind wir allein. Heute gibts lange Zeit keinen Kaffee. Dörfer machen sich rar. Genuss-Velofahren, wie wir es lieben.
Bonjour La Rochelle! Auf die geschichtsträchtige Stadt am Atlantik haben wir uns schon lange gefreut. Und sie gefällt auf Anhieb. Im Lauf der letzten Reisewoche hat sich der Baustil nach und nach geändert. Die weissen Häuser und die halbrunden Dachziegel der alten Hafenstadt muten mediterran an. Sogar der Sommer hat mit uns erbarmen und lädt zum Einkehren in die vielen Strassenkaffees ein. In die schmalen Gassen abseits des Zentrums verirren sich ausser uns kaum Touris.
In der Nähe von La Rochelle, in Les Sables-d’Olonne, startet alle vier Jahre die Vendée Globe, eine Non-Stop-Regatta für Einhandsegler, die entlang des Südpolarmeers im Bereich der Roaring Forties einmal um den Globus führt und deswegen als die härteste Einhandregatta der Welt gilt.
Wir verabschieden uns Richtung Bordeaux, fahren zuerst entlang der Küste (mühsam und langweilig), dann durch Austerngärten Marennes zu (wider Erwarten noch langweiliger). Toll dafür die Route durch weitläufige Weinberge vor Bordeaux. Es wäre ein Fehler gewesen, hätten wir die tolle Stadt ausgelassen. Sie hat viel mehr zu bieten, als nur den berühmten Roten. Wir geniessen die Pausentage in einem gemütlichen Appartement.
Ab 30. Juli 2021
Le Mont-Saint-Michel erobern
Erneuter Richtungswechsel in Domfront. Der V40 führt uns 80 km über ehemalige Bahntrassen sanft und ohne Verkehr an den Antlantik bei Le Mont-Saint-Michel. Das Meer. . . für uns Schweizer Landratten schlicht das Tor zur Welt. Vor viereinhalb Jahren sind wir an Bord des Containerfrachters Port St. Louis von Hamburg nach Kolumbien gereist.
Was der befestigten Aptei Le Mont-Saint-Michel in ihrer 1000jährigen Geschichte nie wiederfahren ist, nämlich erobert zu werden, besorgen jetzt mehr als 2,5 Mio. Touristen jährlich. Die Felsenfestung mit der imposanten Kirche auf dem Berg beeindruckt, auch wenn man sich nicht ganz coronakonform auf den Füssen herumsteht.
Saint-Malo war einst Hochburg für Freibeuter (vom König gebilligte Piraten). Die Altstadt wäre einen längeren Besuch wert, trotzdem setzen wir gerne mit einer kleinen Fähre nach Dinard über, raus aus den Touristenmassen. Vor Martignon versuchen wir unser Glück auf dem *****Zeltplatz „Château de Galinée“. Unglaubliche Fr. 62.- (!) soll das Übernachten uns Velofahrer kosten! (im Schnitt bezahlen wir jetzt in der Hochsaison ca. Fr. 18.-). Auf dem kleinen, familiären Zeltplatz eine Stunde später, stellen wir das Zelt für Fr. 13.- auf.
Wir steuern Lannion an, eine verwinkelte 20'000-Einwohner-Stadt mit Charme ohne besondere Sehenswürdigkeiten, wie es viele in Frankreich gibt. Uns interessiert der Zeltplatz, den wir leider trotz längerem Suchen nicht finden. Die Dame in der Tourist-Information bestätigt, dass der Campingplatz seit Jahren geschlossen ist (aber auf unserer Karte noch existiert). Die zwei Hotels im Ort sind ausgebucht. Puhh, was nun? Es hilft nichts, wir müssen neun Kilometer und etliche Höhenmeter zurück zu einem grossen Campinplatz. Wann finden wir endlich den Ausgang aus dem Altstadt-Irrgarten? Verfluchter Mist! Die iPhones knabbern an den Energiereserven, die Sonne brennt wie seit Tagen nicht. Unsere Moralskala zeigt „beschissen“ an. Ach was solls, einfach pedalen.
Der Campingplatz „Les Alizées“ mit angeliedertem Freizeit-Wasserpark ist riesig und hat trotzdem für uns keinen Platz. Hochsaison. Nichts zu machen, ausgebucht. Weitersuchen. Gleich die erste Adresse ist ein Treffer. Der 88-jährige Bauer erlaubt uns nach einigem zögern auf der nahen Wiese zu zelten. Er klaubt einige deutsche Wörter aus Erinnerungen, schmunzelt. Das Eis ist gebrochen. Wir schlafen so ruhig wie lange nicht mehr.
„Hier herrscht Hochsaison!“
Genussvolles Treten auf kleinen Strassen entlang der Steilküste bei langsam trockenerem Wetter, das lassen wir uns gefallen. Bei Flüssen und malerischen Fischerdörfern schiessen Velöler im Schnellschuss runter vom Festlandplateau zum Wasser. Die krassen Abfahrten, von denen es täglich einige gibt, lassen ungute Aufstiege ahnen. Bis 15% steile Rampen pressen den letzten Tropfen Schweiss aus dem Körper, zumindest denen, die kein E-Bike fahren. Wir lassen uns immer wieder zu solchen Manövern verleiten, zu verlockend der Genuss von Muscheln und spritzigem Chardonnay mit Meerblick.
„Hier herrscht Hochsaison!“ meint die junge Frau auf der Tourist-Information auf die Frage von Bea, ob es freie Hotelzimmer im Ort gäbe. Excusez-moi, das weiss ich. Keinerlei Hotelzimmer frei, im ganzen Ort und nahen Umland. Einen Campingplatz gibt es nicht, das wissen wir. Wo die Nacht verbringen? Wir sollten dringend unsere Phones aufladen. Nirgends freie Zimmer bis zur Küste, die Zeltplätze ausgebucht. Das bleibt gemäss Buchungsplattformen mindestens noch eine Woche so. Was tun? Alle möglichen Unterkünfte abklappern, sonst weiterfahren und uns irgendwo abseits in die Büsche schlagen.
In Morlaix gibt's tatsächlich eine Jugendherberge in der Nähe des Hafens, integriert in ein Ferienheim für Menschen mit Behinderung. Nachfragen kostet nichts. Yeah, yeah! Wir ergattern die letzten zwei Betten in einem Fünferzimmer, teilen den Schlag mit einem frazösischen Ehepaar, das zu Fuss nach Rom pilgert. Glückspilze, die wir sind, einmal mehr! Spätestens am nächsten Morgen, beim gemeinsamen Morgenessen mit den Ferienheimgästen, verstehen wir den Fingerzeig, wie privilegiert wir sind, gesund zu sein und reisen zu dürfen.
Velofahren in Asterix's Gallien
Seit der berühmten Abtei Le Mont-Saint-Michel am Ausläufer des Ärmelkanals zum Atlantik, pedalen wir auf bretonischem Boden. Zeit für eine Pause in der kleinen Küstenstadt Saint Brieuc mit den sehenswerten Fachwerkhäusern aus dem 16. Jahrhundert. Die 1400 Frankreich-Kilometer waren harte Arbeit für unsere monatelang vernachlässigten Beinmuskeln.
Wir hätten ihn als Stärkung mehr als einmal genommen, den Power-Zaubertrank von Miraculix aus Aremorica, Gallien, wenn er zu kaufen gewesen wäre. Dafür genossen wir fruchtig-beerigen Côtes du Rhône als Alternative (gut fürs Gemüt, weniger für die Beine).
Die Herbsttemperaturen und täglichen Duschen aus grauem Himmel tragen wir in der Bretagne darum mit Fassung. Asterix und Obelix hätten ihre Freude an uns Helvetiern.
Zurück an die schokoladenbraune Loire. In den letzten Tagen ist der Wasserstand geklettert, das Wasser riecht wie unsere ständig feuchten Socken, Schwemmholz dümpelt am Ufer. Auf den Deichradwegen kämpfen sich viele Familien tapfer zum nächsten Zeltplatz durch. Hut ab, wer seine Kinder bei der Nässe bei Laune halten kann. Wenn es einen Wettergott gibt, dann ist er bestimmt kein Velofahrer.
Fantastisch, was es heute an Veloanhängern, Schattenvelos und sonstigem schlauem Zubehör zum Reisen gibt. Wie sehr hätten wir uns das vor 35 Jahren für unsere ersten Familientouren gewünscht.
Spass beim Velofahren! Spass?
Ich muss zugeben, erneut an der Loire fahren langweilt keinen Moment. Orleans, Blois und Tour darf man ein zweites Mal besuchen. In Angers legen wir beim gleichen Gastgeber wie letztes Jahr zwei Pausentage ein. Die Loire bleibt hinter uns. Wir biegen nach Norden auf den V43, den Mayenne-Radweg ab und sind erneut begeistert. Das Bummeln entlang des kleinen Flusses mit seinen vielen Schleusen, über Felder und lichten Wald, beinahe immer auf tollen, gekiesten Wegen, begeistert. Zwei Abschnitte sind infolge Erdrutschen gesperrt. Ja, das liebe Wetter. . .
Wie vorher an der Loire begegnen uns viele neue Velos und nagelneue Saggoschen, exakt farblich abgestimmt. Mit dem Rad Europa entdecken ist diesen Sommer offenbar für viele eine Alternative zu Fernreisen nach Thailand oder auf die Malediven. Allerdings ist wenig Begeisterung aus der Mimik mancher Radfahrer/Radfahrerinnen zu lesen. Wir machen uns einen Spass daraus, zu mutmassen, ob die Entgegenkommenden Franzosen sind oder Kilometer fressende Ausländer. Pourquoi si peu de joie dans le cyclisme? Warum so verbissen pedalen?
Auf dem Samstagsmarkt in Château-Gontier möchte man als Velofahrer immerzu probieren, naschen, essen, trinken – einfach alles geniessen, was die frazösische Küche ausmacht. Uns gehen die Augen über! Sträflich, mit leerem Magen durch die Marktstände zu schlendern!
Gemäss Monsieur le président Emmanuel Macron gelten seit Montag strengere Hygieneregeln u.a. beim Besuch von Restaurants. Grössere Abstände zwischen den Tischen, weniger Gäste, Impfung oder Test, Registrierung. Wir merken davon kaum etwas. Der Ärger über die Massnahmen und die Ablehnung des Pass sanitaire, des frazösischen Impfzertifikates, ist bei vielen Franzosen spürbar. Zweimal wird auf Campingplätzen nach unserem Impfnachweis gefragt. Ansonsten keinerlei Kontrollen, einzig in Innenräumen trägt man Maske. Les Français geniessen ihren Apéro im Freien, man herzt sich wie in Vorcoronazeiten, geniesst. C’est la vie. Paris ist weit weg . . . (Jetzt, zwei Wochen später, ist ohne vorzeigen des Impfzertifikates kein Restaurantbesuch mehr möglich – zumindest offiziell).
Ha, ich hab's herausgefunden! Bea schliesst zu mir auf und zeigt auf ihren kabellosen Velocomputer. Tatsächlich, das schlaue, kleine Ding steigt bei jeder Mayenne-Schleuse für ca. hundert Meter aus, um anschliessend weiter jeden Meter aufzuzeichnen, als wäre nichts gewesen. Offenbar stören irgendwelche Funkstrahlen(?) bei den Schleusen den Betrieb. Letztes Jahr, auf der gleichen Strecke, hätte für das verflixte Ding fast das letzte Stündlein geschlagen, so hat sich Bea genervt.
Ab 15. Juli 2021
Gezerre am Roten Faden und ein unerwartetes Wiedersehen
„Muesch halt no meh uflade“. Der dicke Typ, der uns in einer kurzen Steigung beim Bremgartenfriedhof überholt, sitzt aufgeplustert auf seinem Roller wie der fette Hahn auf der Henne. „Würsch gschieder loufe!“ gibt Bea, der der Spruch gilt, mit gleicher Münze bissig zurück.
Im deutschsprachigen Raum hören wir dumme Kommentare, seit wir uns auf Veloreise verabschiedet haben. Woher, wohin, wie weit und wie lang interessiert selten. Ist es Besserwisserei, Neid, schlicht dummes Geschwätz oder spielt die Mentalität eine Rolle, wie wir vermuten?
Wie sehr stellt da die zugerufene Aufmunterung „bravo, bonne route!“ auf dem Weg nach Lyon auf, gerade jetzt, mitten im heftigen Gewitterregen. Das macht die höflichen Franzosen so sympatisch, dafür lieben wir ihr Land.
Ja, der Start zur nächsten Tour ist im dritten Anlauf tatsächlich geglückt, wir sind endlich wieder unterwegs, vollständig geimpft und mit allen Belegen ausgestattet. Hammermässig!
Der Grenzübertritt im westlichsten Zipfel der Schweiz ging ohne Kontrolle vor sich. Weit und breit keine französischen Grenzer. Wären wir allerdings aus Frankreich nach Helvetien eingereist, hätten uns sechs Schweizer Grenzpolizisten mitten in einem Waldstück auf den Zahn gefühlt. Alle Einreisenden werden befragt. Wir sind ihnen kaum einen Gruss wert. Besser aus dem Staub machen und nicht neugierig herumstehen.
Ob die Franzmänner uns überhaupt mit offenen Armen empfangen, nachdem wir sie aus der Fussball-EM gekickt haben? Wir werden sehen . . .
Dauerregen und nächtlicher Nervenkitzel
Nach zwei sonnig-heissen Tourtagen lässt der Sommer die Maske fallen, wohl um uns zu zeigen, dass man dieses Jahr nicht mit ihm rechnen kann. Wir kämpfen uns bis nach Lyon durch ekelhaften Dauerregen und böiger Wind. Schwierig, täglich Kleider und Schuhe trocken zu kriegen. Geht das so weiter, setzen wir Moos an. Also vorbeugend im Hotelzimmer Sonnenwärme per Fernbedienung aktivieren. Geräte, die kühlen, heizen auch. Was solls, nach fast neun Jahren sind wir buchstäblich mit allen Wassern gewaschen, komme was wolle.
Zum Pissewetter passt meine unglückliche Routenwahl auf der D1084 über Valserhône – Nantua nach Lyon. Die stinkende, laute Verkehrslawine nervt. Dass die harten Typen der Tour de France 2021 über einen Teil der gleichen Strecke rasen, ist kein Trost. Wir verpassen DEN sportlichen Klassiker der Franzosen bei Onnyonax um einen Tag. Drei Wochen im Jahr moutieren unsere 67 Millionen frankophonen Nachbarn zu unverbesserlichen Velofreaks. Die Begeisterung kennt keine Grenzen, erst recht, weil es an der laufenden Fussball-EM „dank“ den Eidgenossen nichts zu Feiern gibt.
Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen, dass wir heute zum Campen retour pedalen müssen weil man uns in Port keinen Zeltplatz anbieten will, resp. kann. Wenigstens gelingt es in der Fussbal-EM-Verlängerung Schweiz - Spanien endlich, mit dem Laptop ins Internet zu kriechen. Hat gleich viel Nerven gekostet wie das abschliessende Elfmeterschiessen. Das brauchen wir wirklich nicht jeden Abend!
Panierte Kutteln und eine gefährliche Beule
Nach zwei Stunden liegt die Stadtgrenze von Lyon endlich hinter uns. Die 2,4 Millionen Menschen, die in der Metropolregion wohnen, machen Lyon nach Paris zur zweitgrössten Stadt Frankreichs. Die steilen, verkehrsreichen Serpentinen, weg von der Saône Richtung Lyonnaiser Berge im Westen, keuchen wir zu Fuss hoch, die Velos schiebend. Einmal mehr zu viel gegessen, die letzten Tage. Ein Elend in Frankreich ist das gute Essen. Lyon, bekannt für seine üppigen Schlemmereien, hat uns zugesetzt. Die Heimatstadt des Kochpapstes Paul Bocuse bietet Liebhabern von Innereien ausgefallene Gerichte an (für mich eine willkommene Abwchslung auf dem Teller, Bea muss das nicht haben). Wer hier Tablier de Sapeur (panierte Kutteln) oder Andouillette sauce moutarde (Kaldaunenwurst in Senfsoße) nie versucht hat, hat etwas verpasst.
Zufällig fällt mir heute morgen beim Packen der hässliche Buckel an der Aussenseite des Hinterreifens auf. Die Seitenwand gleicht einem Sieb. Sieht nicht gut aus. Wenn der Reifen in einer Abfahrt platzt, dann . . . Die üblen Fahrspuren im indischen Hymalaja und in Nepal sowie Hitze und Kälte waren Gift für die Pneus. Keine Diskussion, ein neuer muss her! Bei strömendem Regen pedale ich in Moulins zu einem grossen Sporthändler am Stadtrand. Schlappe 15 Euro kostet der Ersatzreifen, Made in Thailand. Keine Topqualität, er wird die nächsten Monate aber bestimmt halten.
Ebenso wie unsere „Reifen“ am Bauch die nächsten Wochen, wie wir befürchten. Sie sind mehr und mehr sichtbar geworden. Noch nicht hässlich, aber lästig und unschön. Mehr Velofahren! Es wird höchste Zeit!
Bei der Tourenplanung hat die lange Wartezeit in der Schweiz ebenfalls Spuren hinterlassen. Wir diskutieren aneiander vorbei. So als würden wir verwundert feststellen, dass der vermeintliche gemeinsame Faden zu verschiedenen Knäueln führt.
Bea gefällt mein Roter Faden durch Frankreich nicht, mir stinkt ihr Herumkritisieren, nachdem alles fein eingefädelt scheint. Quer durch das Land, von Osten nach Westen, oder gleich den Zug in die Bretagne nehmen?Nein, mit dem Zug fahre ich nicht! Auf keinen Fall! Bevor die Köpfe zu heiss werden, einigen wir uns auf den Kompromiss, nochmals der Loire zu folgen, diesmal dem Meer zu.
Das mussten wir über all die Jahre Velofahren lernen: Allein mit dem Velo reisen ist nicht unser Ding. Nur wenn wir uns zusammenraufen, gehts gemeinsam weiter, haben wir auch Spass am Pedalen.
Genussfahren für Freaks und Radreisefrischlinge
Abseits der ausgefahrenen Velorouten sind wir allein auf dem Globus unterwegs. Als eigentlicher Dauerbrenner erweisen sich dagegen die verkehrsfreien Radwege entlang der Loire, bekannt wegen der vielen Schlösser, Herrschaftshäuser und malerischen Kanalrouten. Wie geschaffen für Familien, Radreisefrischlinge und Tourenbummler, die sich nichts mehr zu beweisen brauchen. Kräftezehrende Steigungen sind so selten wie Kaffees und Restaurants an der Route – leider.
Wir kommen gut voran, an diesem Mittwoch. Drohend grau der Himmel, braungrau die Loire, elf Grad die Luft. Noch führt der Fluss wenig Hochwasser, aber was wir aus der Schweiz und Deutschland hören, macht betroffen. Dauerregen und Gegenwind versuchen uns aufzuhalten, wer möchte da schon ein Bummeltempo anschlagen. Einen Kaffee und je ein halber Müesliriegel, zu mehr haben wir tagsüber keine Lust. Nach 70 Kilometern die erlösende heisse Dusche und später ein feines Nachtessen. Das haben wir uns verdient!
Einen Tag später die Überraschung. Das sind doch . . . die zwei kennen wir tatsächlich! Und wirklich, Margarita und Pius aus dem Appenzell, die wir vor einem knappen Jahr an der französischen Mosel kennen lernten, fahren uns kurz vor Sully-sur-Loire über den Weg. Nicht selten kommt es vor, dass sich Tourenfahrer nach Monaten oder gar Jahren irgendwo auf der Welt wieder begegnen. Grosses Hallo garantiert! Wir freuen uns einmal mehr.